allen erlittenen, sonst unvergeltbaren, Schmerz. Vielleicht war es nur so möglich, die Persönlichkeit zu gewinnen, und den Keim künftiger Erhebungen in gedeihlichern Existenzen; wenn es auch nur das wäre, was die unselige Menschheit bedeuten soll, daß der bewußtlose im Ganzen der Gottheit aufgelöset gewesene Lichtpunkt als Menschenseele in das selbst- ständige Dasein eines eigenen Ganzen göttlich hinüberginge! O gewiß ist es auf diese Weise; höher konnten meine Gedan- ken nicht klimmen am Rande aller Wissenschaft, und keine Weisheit wurde mir bekannt, die höher gedrungen sei. --
An Alexander von der Marwitz, in Potsdam.
Mittwoch, den 8. Juli 1812.
Hätte ich vorgestern Zeit gehabt, Ihnen zu antworten, so hätten Sie einen sehr guten Brief bekommen; ich hatte ihn schon fertig im Kopfe. Jetzt eben hat man mir wieder die Stimmung und Fassung geraubt, als ich Ihren Brief noch Einmal las, das Papier auf dem Tisch lag, und ich grad hinging. Mir kam ein Billet von Behrenhorst, ein Brief von Mad. Spazier aus Strelitz, ein Billet von einem unglückli- chen jungen Menschen. Auf das erste mußte ich antworten, den Brief konnt' ich vor Kleinheit nicht auslesen, das letzte nimmt mich ein. Vorher war ich bei meiner Kranken, der Por- tugiesin, mit dem Arzt, und besorgte Küche, und Wirthschaft dort, für den ganzen Tag. Es geht ihr sehr besser.
Brutus also sagt mir, daß wir uns so bald nicht sehen
allen erlittenen, ſonſt unvergeltbaren, Schmerz. Vielleicht war es nur ſo möglich, die Perſönlichkeit zu gewinnen, und den Keim künftiger Erhebungen in gedeihlichern Exiſtenzen; wenn es auch nur das wäre, was die unſelige Menſchheit bedeuten ſoll, daß der bewußtloſe im Ganzen der Gottheit aufgelöſet geweſene Lichtpunkt als Menſchenſeele in das ſelbſt- ſtändige Daſein eines eigenen Ganzen göttlich hinüberginge! O gewiß iſt es auf dieſe Weiſe; höher konnten meine Gedan- ken nicht klimmen am Rande aller Wiſſenſchaft, und keine Weisheit wurde mir bekannt, die höher gedrungen ſei. —
An Alexander von der Marwitz, in Potsdam.
Mittwoch, den 8. Juli 1812.
Hätte ich vorgeſtern Zeit gehabt, Ihnen zu antworten, ſo hätten Sie einen ſehr guten Brief bekommen; ich hatte ihn ſchon fertig im Kopfe. Jetzt eben hat man mir wieder die Stimmung und Faſſung geraubt, als ich Ihren Brief noch Einmal las, das Papier auf dem Tiſch lag, und ich grad hinging. Mir kam ein Billet von Behrenhorſt, ein Brief von Mad. Spazier aus Strelitz, ein Billet von einem unglückli- chen jungen Menſchen. Auf das erſte mußte ich antworten, den Brief konnt’ ich vor Kleinheit nicht ausleſen, das letzte nimmt mich ein. Vorher war ich bei meiner Kranken, der Por- tugieſin, mit dem Arzt, und beſorgte Küche, und Wirthſchaft dort, für den ganzen Tag. Es geht ihr ſehr beſſer.
Brutus alſo ſagt mir, daß wir uns ſo bald nicht ſehen
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allen erlittenen, ſonſt unvergeltbaren, Schmerz. Vielleicht
war es nur ſo möglich, die Perſönlichkeit zu gewinnen, und
den Keim künftiger Erhebungen in gedeihlichern Exiſtenzen;
wenn es auch nur das wäre, was die unſelige Menſchheit
bedeuten ſoll, daß der bewußtloſe im Ganzen der Gottheit
aufgelöſet geweſene Lichtpunkt als Menſchenſeele in das ſelbſt-
ſtändige Daſein eines eigenen Ganzen göttlich hinüberginge!
O gewiß iſt es auf dieſe Weiſe; höher konnten meine Gedan-
ken nicht klimmen am Rande aller Wiſſenſchaft, und keine
Weisheit wurde mir bekannt, die höher gedrungen ſei. —
An Alexander von der Marwitz, in Potsdam.
Mittwoch, den 8. Juli 1812.
Hätte ich vorgeſtern Zeit gehabt, Ihnen zu antworten, ſo
hätten Sie einen ſehr guten Brief bekommen; ich hatte ihn
ſchon fertig im Kopfe. Jetzt eben hat man mir wieder die
Stimmung und Faſſung geraubt, als ich Ihren Brief noch
Einmal las, das Papier auf dem Tiſch lag, und ich grad
hinging. Mir kam ein Billet von Behrenhorſt, ein Brief von
Mad. Spazier aus Strelitz, ein Billet von einem unglückli-
chen jungen Menſchen. Auf das erſte mußte ich antworten,
den Brief konnt’ ich vor Kleinheit nicht ausleſen, das letzte
nimmt mich ein. Vorher war ich bei meiner Kranken, der Por-
tugieſin, mit dem Arzt, und beſorgte Küche, und Wirthſchaft
dort, für den ganzen Tag. Es geht ihr ſehr beſſer.
Brutus alſo ſagt mir, daß wir uns ſo bald nicht ſehen
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/63>, abgerufen am 21.11.2024.
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