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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

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An Astolf Grafen von Custine, in Paris.


Ist es möglich, lieber Freund, daß Sie mir ein Wort aus
Paris schreiben? wo Sie seit wenigstens sechs Wochen sein
müssen, und wo Ihnen doch so vieles begegnet sein muß. Se-
hen Sie Ihre vorjährige Kotterie? ist es Ihnen unbehaglich?
Haben Sie andre angenehme Gänge? Gehen Sie spaziren?
Schreiben Sie mir Erfrischendes! Alles. Mein Winter war
so voller Unpäßlichkeit, daß ich ihn bis vor drei Wochen in
der ertödtendsten Einsamkeit, zu Hause zubringen mußte; weil
jeder Versuch zum Ausgehen mir wenigstens noch acht schlech-
tere Tage, und besonders Nächte machte; er war so trocken
für mich in allem was mich beleben und nähren sollte, daß
ich selbst trocken und dürr davon geworden bin: mich nicht
durch mich allein zu erholen vermag; und hoffnungslos warte,
es möchte etwas kommen! In solchen grimmigen Stimmun-
gen mochte, und konnte ich Ihnen nie schreiben: was hilft
das Beichten an Freunde; das Beten zum Himmel: mich dünkt
oft, man setzt beide in keine gute Verfassung, wenn uns doch
nicht geholfen werden kann oder soll. Das Dekret von oben:
ich soll vernünftig sein, das kenne ich. Und eben weil meine
innerste Natur mich einzig zu Befolgung dieses Gebots treibt,
fühl' ich mich eigentlich elend, oder vielmehr dies ist mein
ganzes Elend. Frei bleiben ewig die Wünsche und Bedürf-
nisse unsers Herzens! dies ist absolut ausgemacht; und heißt:
wir selbst können unsere Natur, und die Thätigkeit ihres We-

An Aſtolf Grafen von Cuſtine, in Paris.


Iſt es möglich, lieber Freund, daß Sie mir ein Wort aus
Paris ſchreiben? wo Sie ſeit wenigſtens ſechs Wochen ſein
müſſen, und wo Ihnen doch ſo vieles begegnet ſein muß. Se-
hen Sie Ihre vorjährige Kotterie? iſt es Ihnen unbehaglich?
Haben Sie andre angenehme Gänge? Gehen Sie ſpaziren?
Schreiben Sie mir Erfriſchendes! Alles. Mein Winter war
ſo voller Unpäßlichkeit, daß ich ihn bis vor drei Wochen in
der ertödtendſten Einſamkeit, zu Hauſe zubringen mußte; weil
jeder Verſuch zum Ausgehen mir wenigſtens noch acht ſchlech-
tere Tage, und beſonders Nächte machte; er war ſo trocken
für mich in allem was mich beleben und nähren ſollte, daß
ich ſelbſt trocken und dürr davon geworden bin: mich nicht
durch mich allein zu erholen vermag; und hoffnungslos warte,
es möchte etwas kommen! In ſolchen grimmigen Stimmun-
gen mochte, und konnte ich Ihnen nie ſchreiben: was hilft
das Beichten an Freunde; das Beten zum Himmel: mich dünkt
oft, man ſetzt beide in keine gute Verfaſſung, wenn uns doch
nicht geholfen werden kann oder ſoll. Das Dekret von oben:
ich ſoll vernünftig ſein, das kenne ich. Und eben weil meine
innerſte Natur mich einzig zu Befolgung dieſes Gebots treibt,
fühl’ ich mich eigentlich elend, oder vielmehr dies iſt mein
ganzes Elend. Frei bleiben ewig die Wünſche und Bedürf-
niſſe unſers Herzens! dies iſt abſolut ausgemacht; und heißt:
wir ſelbſt können unſere Natur, und die Thätigkeit ihres We-

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[567/0575] An Aſtolf Grafen von Cuſtine, in Paris. Karlsruhe, den 17. Februar 1819. Regenwetter, Mittags 1 Uhr. Iſt es möglich, lieber Freund, daß Sie mir ein Wort aus Paris ſchreiben? wo Sie ſeit wenigſtens ſechs Wochen ſein müſſen, und wo Ihnen doch ſo vieles begegnet ſein muß. Se- hen Sie Ihre vorjährige Kotterie? iſt es Ihnen unbehaglich? Haben Sie andre angenehme Gänge? Gehen Sie ſpaziren? Schreiben Sie mir Erfriſchendes! Alles. Mein Winter war ſo voller Unpäßlichkeit, daß ich ihn bis vor drei Wochen in der ertödtendſten Einſamkeit, zu Hauſe zubringen mußte; weil jeder Verſuch zum Ausgehen mir wenigſtens noch acht ſchlech- tere Tage, und beſonders Nächte machte; er war ſo trocken für mich in allem was mich beleben und nähren ſollte, daß ich ſelbſt trocken und dürr davon geworden bin: mich nicht durch mich allein zu erholen vermag; und hoffnungslos warte, es möchte etwas kommen! In ſolchen grimmigen Stimmun- gen mochte, und konnte ich Ihnen nie ſchreiben: was hilft das Beichten an Freunde; das Beten zum Himmel: mich dünkt oft, man ſetzt beide in keine gute Verfaſſung, wenn uns doch nicht geholfen werden kann oder ſoll. Das Dekret von oben: ich ſoll vernünftig ſein, das kenne ich. Und eben weil meine innerſte Natur mich einzig zu Befolgung dieſes Gebots treibt, fühl’ ich mich eigentlich elend, oder vielmehr dies iſt mein ganzes Elend. Frei bleiben ewig die Wünſche und Bedürf- niſſe unſers Herzens! dies iſt abſolut ausgemacht; und heißt: wir ſelbſt können unſere Natur, und die Thätigkeit ihres We-

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/575>, abgerufen am 21.11.2024.