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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

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An Friedrich Ludwig Lindner, in Straßburg.


Warmes Vogelsing- und Blüthenwetter.

Kennen Sie eine besondere Melancholie, ein Drängen nach
vorwärts, eine Prätension, ein Erwarten, daß es angehe; grad
in solchem Wetter? und ein Hineinschauen in sich selbst, und
alles was einem begegnet ist, nach allem Rang und Drang
-- Ringen und Dringen, hieße es in der rechten, mir jetzt gar
nicht rechten Sprache, -- den man verbrachte, wie in einem
alten kalten wüsten Gemäuer hin? Nun so ist mir; und noch
tausendfältig anders, Also hätte ich Ihnen grade heute gar
nicht schreiben sollen; aber Ihr Brief, der vorgestern ankam,
läßt es nicht zu: auf den muß noch eine Antwort kommen,
sie falle aus, wie sie kann. Wie hat er mich gefreut dieser
Brief; und nicht allein, weil er an mich ist, weil er mir
schmeichelt; er machte mir diesen auf mich gerichteten Genuß
erst möglich, weil es ein lieber, ehrlicher, feiner Brief war.
Wir werden beide, alle, zu affektiren gar nicht nöthig haben.
Bald werden wir uns eingesprochen haben, recht geschwind,
und uns leicht über kleine Divergenzen zurechtgerückt haben;
und gründlich von einander verstehen, warum wir in manchem
verschieden sein müssen. So viel nur! Ihr Brief, sein ganzer
Ton, jeder Ausdruck, ruft mir ganz Ihre Physionomie vor die
Augen; freudig, zutraulich, naiv, herzig, wie Sie gegen Freunde
aussehen konnten. -- Dann hat mich sehr gefreut, Ihre Mei-
nung über die jetzige Politik meinen ähnlich zu finden; also
darüber werden wir nur sehr wenig sprechen; oder, wenn wir

An Friedrich Ludwig Lindner, in Straßburg.


Warmes Vogelſing- und Blüthenwetter.

Kennen Sie eine beſondere Melancholie, ein Drängen nach
vorwärts, eine Prätenſion, ein Erwarten, daß es angehe; grad
in ſolchem Wetter? und ein Hineinſchauen in ſich ſelbſt, und
alles was einem begegnet iſt, nach allem Rang und Drang
— Ringen und Dringen, hieße es in der rechten, mir jetzt gar
nicht rechten Sprache, — den man verbrachte, wie in einem
alten kalten wüſten Gemäuer hin? Nun ſo iſt mir; und noch
tauſendfältig anders, Alſo hätte ich Ihnen grade heute gar
nicht ſchreiben ſollen; aber Ihr Brief, der vorgeſtern ankam,
läßt es nicht zu: auf den muß noch eine Antwort kommen,
ſie falle aus, wie ſie kann. Wie hat er mich gefreut dieſer
Brief; und nicht allein, weil er an mich iſt, weil er mir
ſchmeichelt; er machte mir dieſen auf mich gerichteten Genuß
erſt möglich, weil es ein lieber, ehrlicher, feiner Brief war.
Wir werden beide, alle, zu affektiren gar nicht nöthig haben.
Bald werden wir uns eingeſprochen haben, recht geſchwind,
und uns leicht über kleine Divergenzen zurechtgerückt haben;
und gründlich von einander verſtehen, warum wir in manchem
verſchieden ſein müſſen. So viel nur! Ihr Brief, ſein ganzer
Ton, jeder Ausdruck, ruft mir ganz Ihre Phyſionomie vor die
Augen; freudig, zutraulich, naiv, herzig, wie Sie gegen Freunde
ausſehen konnten. — Dann hat mich ſehr gefreut, Ihre Mei-
nung über die jetzige Politik meinen ähnlich zu finden; alſo
darüber werden wir nur ſehr wenig ſprechen; oder, wenn wir

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[534/0542] An Friedrich Ludwig Lindner, in Straßburg. Karlsruhe, Mittwoch Vormittag den 29. April 1818. Warmes Vogelſing- und Blüthenwetter. Kennen Sie eine beſondere Melancholie, ein Drängen nach vorwärts, eine Prätenſion, ein Erwarten, daß es angehe; grad in ſolchem Wetter? und ein Hineinſchauen in ſich ſelbſt, und alles was einem begegnet iſt, nach allem Rang und Drang — Ringen und Dringen, hieße es in der rechten, mir jetzt gar nicht rechten Sprache, — den man verbrachte, wie in einem alten kalten wüſten Gemäuer hin? Nun ſo iſt mir; und noch tauſendfältig anders, Alſo hätte ich Ihnen grade heute gar nicht ſchreiben ſollen; aber Ihr Brief, der vorgeſtern ankam, läßt es nicht zu: auf den muß noch eine Antwort kommen, ſie falle aus, wie ſie kann. Wie hat er mich gefreut dieſer Brief; und nicht allein, weil er an mich iſt, weil er mir ſchmeichelt; er machte mir dieſen auf mich gerichteten Genuß erſt möglich, weil es ein lieber, ehrlicher, feiner Brief war. Wir werden beide, alle, zu affektiren gar nicht nöthig haben. Bald werden wir uns eingeſprochen haben, recht geſchwind, und uns leicht über kleine Divergenzen zurechtgerückt haben; und gründlich von einander verſtehen, warum wir in manchem verſchieden ſein müſſen. So viel nur! Ihr Brief, ſein ganzer Ton, jeder Ausdruck, ruft mir ganz Ihre Phyſionomie vor die Augen; freudig, zutraulich, naiv, herzig, wie Sie gegen Freunde ausſehen konnten. — Dann hat mich ſehr gefreut, Ihre Mei- nung über die jetzige Politik meinen ähnlich zu finden; alſo darüber werden wir nur ſehr wenig ſprechen; oder, wenn wir

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/542>, abgerufen am 21.11.2024.