Wir gehen noch Einmal zusammen vor dem Dachfenster vorbei! "Ach! wer ruft nicht so gern Unwiederbringliches an!" -- "Reich' ich ihr doch kaum bis an die Schultern." Sagt auch Goethe Einmal von der Erfüllung der Wünsche. Reiche ich doch kaum dem Glück, in einer Verbindung wie die unsrige zu leben, an die Schultern, und fasse sie wirklich nicht immer, genieße sie nur. Adieu, mein theuerster August! Morgen kommt ein Brief von dir! Grüße alle Geschwister, Nichten und Freunde. Deine R. Es ist heute schönes Wetter. Adieu, adieu!
An Varnhagen, in Berlin.
Frankfurt a. M., Dienstag, den 4. November 1817.
Bald halb 11. Noch herrscht Nebel, gegen Mittag wird wohl die Sonne siegen; wie all diese Tage her. Das Wetter ist wie in Berlin.
Wenn ich dich nur beruhigen könnte, mein geliebter Freund, über mich beruhigen! Wenigstens erhältst du meine Briefe, die dir nicht die mindeste Ungeduld zeigen, und es auch schon gut finden wie du, daß du nur in Berlin warst, und überhaupt alle deine Ansichten gewissermaßen im voraus haben. Ich bitte dich noch Einmal hier! dich in nichts zu übereilen; auch auf der Herreise nicht; dort, wie du es nennst, nichts ver- wundet zurückzulassen; und -- in deine Anmahnungsschrei- ben nicht zu viel Salz zu streuen. Ich weiß, ich kann dir das Fach der Schreibekunst in größter Sicherheit wie das des Verhandlens überlassen, aber mein zaghafter Karakter läßt doch ein Wort mit einfließen; welches du manchmal in meiner
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Wir gehen noch Einmal zuſammen vor dem Dachfenſter vorbei! „Ach! wer ruft nicht ſo gern Unwiederbringliches an!“ — „Reich’ ich ihr doch kaum bis an die Schultern.“ Sagt auch Goethe Einmal von der Erfüllung der Wünſche. Reiche ich doch kaum dem Glück, in einer Verbindung wie die unſrige zu leben, an die Schultern, und faſſe ſie wirklich nicht immer, genieße ſie nur. Adieu, mein theuerſter Auguſt! Morgen kommt ein Brief von dir! Grüße alle Geſchwiſter, Nichten und Freunde. Deine R. Es iſt heute ſchönes Wetter. Adieu, adieu!
An Varnhagen, in Berlin.
Frankfurt a. M., Dienstag, den 4. November 1817.
Bald halb 11. Noch herrſcht Nebel, gegen Mittag wird wohl die Sonne ſiegen; wie all dieſe Tage her. Das Wetter iſt wie in Berlin.
Wenn ich dich nur beruhigen könnte, mein geliebter Freund, über mich beruhigen! Wenigſtens erhältſt du meine Briefe, die dir nicht die mindeſte Ungeduld zeigen, und es auch ſchon gut finden wie du, daß du nur in Berlin warſt, und überhaupt alle deine Anſichten gewiſſermaßen im voraus haben. Ich bitte dich noch Einmal hier! dich in nichts zu übereilen; auch auf der Herreiſe nicht; dort, wie du es nennſt, nichts ver- wundet zurückzulaſſen; und — in deine Anmahnungsſchrei- ben nicht zu viel Salz zu ſtreuen. Ich weiß, ich kann dir das Fach der Schreibekunſt in größter Sicherheit wie das des Verhandlens überlaſſen, aber mein zaghafter Karakter läßt doch ein Wort mit einfließen; welches du manchmal in meiner
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Wir gehen noch Einmal zuſammen vor dem Dachfenſter
vorbei! „Ach! wer ruft nicht ſo gern Unwiederbringliches an!“
— „Reich’ ich ihr doch kaum bis an die Schultern.“ Sagt
auch Goethe Einmal von der Erfüllung der Wünſche. Reiche
ich doch kaum dem Glück, in einer Verbindung wie die unſrige
zu leben, an die Schultern, und faſſe ſie wirklich nicht immer,
genieße ſie nur. Adieu, mein theuerſter Auguſt! Morgen
kommt ein Brief von dir! Grüße alle Geſchwiſter, Nichten und
Freunde. Deine R. Es iſt heute ſchönes Wetter. Adieu, adieu!
An Varnhagen, in Berlin.
Frankfurt a. M., Dienstag, den 4. November 1817.
Bald halb 11. Noch herrſcht Nebel, gegen Mittag wird wohl
die Sonne ſiegen; wie all dieſe Tage her. Das Wetter iſt
wie in Berlin.
Wenn ich dich nur beruhigen könnte, mein geliebter Freund,
über mich beruhigen! Wenigſtens erhältſt du meine Briefe, die
dir nicht die mindeſte Ungeduld zeigen, und es auch ſchon gut
finden wie du, daß du nur in Berlin warſt, und überhaupt
alle deine Anſichten gewiſſermaßen im voraus haben. Ich
bitte dich noch Einmal hier! dich in nichts zu übereilen; auch
auf der Herreiſe nicht; dort, wie du es nennſt, nichts ver-
wundet zurückzulaſſen; und — in deine Anmahnungsſchrei-
ben nicht zu viel Salz zu ſtreuen. Ich weiß, ich kann dir
das Fach der Schreibekunſt in größter Sicherheit wie das des
Verhandlens überlaſſen, aber mein zaghafter Karakter läßt
doch ein Wort mit einfließen; welches du manchmal in meiner
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/507>, abgerufen am 21.11.2024.
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