Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

strömen. Solcher Todtschlag bleibt ein ewiger Schmerz: ist
nicht zu bekämpfen, nicht zu ändern, und einzig tragisch.




Shakespeare sagt: "So soll ich denn mit fremden Augen
in die Glückseligkeit schauen!" Wie vor einer ausgehungerten
Stadt, können einem sehr Unglücklichen alle möglichen Lebens-
mittel vor dem Herzen vorbeiziehen, und kein Korn, kein
Tropfen Nahrung hinein kommen; er sieht den Reichthum,
und nimmt Theil an der erquickenden Fülle der Andern, und
feste Thore verschließen auf ewig sein Herz. Einem solchen
beneidet und tadelt man oft noch Eitelkeit: ach! und er ver-
mag gar nicht eitel zu sein, im Grunde!

Holde, reiche, milde, trostvolle Natur, nimm ihn auf in
deinen unendlichen Schooß! verwehe ihm Menschenspur aus
dem geängstigten, mißbrauchten, von ihm selbst mißbrauchten
und mißverstandenen Herzen: verleibe ihn ein in dein Gesund-
heitsathmen, vereinige ihn mit Element und Wetter! daß er,
selbst gesund, durchsonnte Atmosphäre athme, einsauge, em-
pfinde, und mit ihr einverstanden sei, durch frei bewegten
Organismus der Glieder, und seines Geistes; daß er kein
Verhältniß, nur ein Sein fühle, und eine frohe Welt
empfinde! --



ſtrömen. Solcher Todtſchlag bleibt ein ewiger Schmerz: iſt
nicht zu bekämpfen, nicht zu ändern, und einzig tragiſch.




Shakeſpeare ſagt: „So ſoll ich denn mit fremden Augen
in die Glückſeligkeit ſchauen!“ Wie vor einer ausgehungerten
Stadt, können einem ſehr Unglücklichen alle möglichen Lebens-
mittel vor dem Herzen vorbeiziehen, und kein Korn, kein
Tropfen Nahrung hinein kommen; er ſieht den Reichthum,
und nimmt Theil an der erquickenden Fülle der Andern, und
feſte Thore verſchließen auf ewig ſein Herz. Einem ſolchen
beneidet und tadelt man oft noch Eitelkeit: ach! und er ver-
mag gar nicht eitel zu ſein, im Grunde!

Holde, reiche, milde, troſtvolle Natur, nimm ihn auf in
deinen unendlichen Schooß! verwehe ihm Menſchenſpur aus
dem geängſtigten, mißbrauchten, von ihm ſelbſt mißbrauchten
und mißverſtandenen Herzen: verleibe ihn ein in dein Geſund-
heitsathmen, vereinige ihn mit Element und Wetter! daß er,
ſelbſt geſund, durchſonnte Atmoſphäre athme, einſauge, em-
pfinde, und mit ihr einverſtanden ſei, durch frei bewegten
Organismus der Glieder, und ſeines Geiſtes; daß er kein
Verhältniß, nur ein Sein fühle, und eine frohe Welt
empfinde! —



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0199" n="191"/>
&#x017F;trömen. Solcher Todt&#x017F;chlag bleibt ein ewiger Schmerz: i&#x017F;t<lb/>
nicht zu bekämpfen, nicht zu ändern, und einzig tragi&#x017F;ch.</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Montag, den 11. April 1814. Am zweiten O&#x017F;tertag, als<lb/>
man in Prag die Einnahme von Paris erfuhr.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Shake&#x017F;peare &#x017F;agt: &#x201E;So &#x017F;oll ich denn mit fremden Augen<lb/>
in die Glück&#x017F;eligkeit &#x017F;chauen!&#x201C; Wie vor einer ausgehungerten<lb/>
Stadt, können einem &#x017F;ehr Unglücklichen alle möglichen Lebens-<lb/>
mittel vor dem Herzen vorbeiziehen, und kein Korn, kein<lb/>
Tropfen Nahrung hinein kommen; er &#x017F;ieht den Reichthum,<lb/>
und nimmt Theil an der erquickenden Fülle der Andern, und<lb/>
fe&#x017F;te Thore ver&#x017F;chließen auf ewig &#x017F;ein Herz. Einem &#x017F;olchen<lb/>
beneidet und tadelt man oft noch Eitelkeit: ach! und er ver-<lb/>
mag gar nicht eitel zu &#x017F;ein, im Grunde!</p><lb/>
            <p>Holde, reiche, milde, tro&#x017F;tvolle Natur, nimm ihn auf in<lb/>
deinen unendlichen Schooß! verwehe ihm Men&#x017F;chen&#x017F;pur aus<lb/>
dem geäng&#x017F;tigten, mißbrauchten, von ihm &#x017F;elb&#x017F;t mißbrauchten<lb/>
und mißver&#x017F;tandenen Herzen: verleibe ihn ein in dein Ge&#x017F;und-<lb/>
heitsathmen, vereinige ihn mit Element und Wetter! daß er,<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;und, durch&#x017F;onnte Atmo&#x017F;phäre athme, ein&#x017F;auge, em-<lb/>
pfinde, und mit ihr einver&#x017F;tanden &#x017F;ei, durch frei bewegten<lb/>
Organismus der Glieder, und &#x017F;eines Gei&#x017F;tes; daß er kein<lb/>
Verhältniß, nur ein Sein fühle, und eine frohe Welt<lb/>
empfinde! &#x2014;</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0199] ſtrömen. Solcher Todtſchlag bleibt ein ewiger Schmerz: iſt nicht zu bekämpfen, nicht zu ändern, und einzig tragiſch. Montag, den 11. April 1814. Am zweiten Oſtertag, als man in Prag die Einnahme von Paris erfuhr. Shakeſpeare ſagt: „So ſoll ich denn mit fremden Augen in die Glückſeligkeit ſchauen!“ Wie vor einer ausgehungerten Stadt, können einem ſehr Unglücklichen alle möglichen Lebens- mittel vor dem Herzen vorbeiziehen, und kein Korn, kein Tropfen Nahrung hinein kommen; er ſieht den Reichthum, und nimmt Theil an der erquickenden Fülle der Andern, und feſte Thore verſchließen auf ewig ſein Herz. Einem ſolchen beneidet und tadelt man oft noch Eitelkeit: ach! und er ver- mag gar nicht eitel zu ſein, im Grunde! Holde, reiche, milde, troſtvolle Natur, nimm ihn auf in deinen unendlichen Schooß! verwehe ihm Menſchenſpur aus dem geängſtigten, mißbrauchten, von ihm ſelbſt mißbrauchten und mißverſtandenen Herzen: verleibe ihn ein in dein Geſund- heitsathmen, vereinige ihn mit Element und Wetter! daß er, ſelbſt geſund, durchſonnte Atmoſphäre athme, einſauge, em- pfinde, und mit ihr einverſtanden ſei, durch frei bewegten Organismus der Glieder, und ſeines Geiſtes; daß er kein Verhältniß, nur ein Sein fühle, und eine frohe Welt empfinde! —

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/199
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/199>, abgerufen am 21.12.2024.