sie hat mir vorgesungen; sie ist eine einzig liebenswürdige Frau; jede Bewegung ist ein Reiz, ein Zauber, ein Wahn- witz zum Lachen und zum Weinen. Zum Glück seh' ich nun ihre Blicke immerfort, und gestern hatt' ich immer die Angst, ich würde sie nicht behalten. Der Gesang; dieses Girren, der Ausdruck; es giebt nur Einen Ausdruck! Diese Güte und Lieblichkeit, o wahrer Zauber! anerkannter, wirklicher; das heißt Passion, das heißen Geschenke von den Göttern; das heißt Musik; das heißt Schönheit. Empfinden Sie's, so ist es gut für Sie, so können Sie es auch einmal genießen, wenn Sie ihm begegnen. Geschrieben habe ich nur für mich!
An David Veit, in Göttingen.
Berlin, den 18. November 1793.
-- Nun will ich Ihnen genau sagen, was ich von mei- nem unrichtigen Schreiben weiß, ohne mich im geringsten ent- schuldigen zu wollen; weil ich mich durch ihre Frage gar nicht angeklagt fühle. Ich mag mir wirklich noch so viel vornehmen, auf die Orthographie, während ich lese, Acht zu geben, so geschieht's fast niemals; und bringe ich es einmal gleich anfangs beim Lesen dahin, so lese ich gar nicht, son- dern sehe nun nur wieder, wie die Wörter geschrieben sind; dessen werde ich gar bald überdrüssig, und lese wieder; das ist nun entsetzlich traurig für mich, und jeder Geringste kann daher mehr lernen als ich, und es wäre entsetzlich, wenn mir nicht der Ausweg zum Trost übrig gelassen wäre, daß ich der schlechten Seite meines Kopfes gar nicht Schuld geben kann,
und
ſie hat mir vorgeſungen; ſie iſt eine einzig liebenswürdige Frau; jede Bewegung iſt ein Reiz, ein Zauber, ein Wahn- witz zum Lachen und zum Weinen. Zum Glück ſeh’ ich nun ihre Blicke immerfort, und geſtern hatt’ ich immer die Angſt, ich würde ſie nicht behalten. Der Geſang; dieſes Girren, der Ausdruck; es giebt nur Einen Ausdruck! Dieſe Güte und Lieblichkeit, o wahrer Zauber! anerkannter, wirklicher; das heißt Paſſion, das heißen Geſchenke von den Göttern; das heißt Muſik; das heißt Schönheit. Empfinden Sie’s, ſo iſt es gut für Sie, ſo können Sie es auch einmal genießen, wenn Sie ihm begegnen. Geſchrieben habe ich nur für mich!
An David Veit, in Göttingen.
Berlin, den 18. November 1793.
— Nun will ich Ihnen genau ſagen, was ich von mei- nem unrichtigen Schreiben weiß, ohne mich im geringſten ent- ſchuldigen zu wollen; weil ich mich durch ihre Frage gar nicht angeklagt fühle. Ich mag mir wirklich noch ſo viel vornehmen, auf die Orthographie, während ich leſe, Acht zu geben, ſo geſchieht’s faſt niemals; und bringe ich es einmal gleich anfangs beim Leſen dahin, ſo leſe ich gar nicht, ſon- dern ſehe nun nur wieder, wie die Wörter geſchrieben ſind; deſſen werde ich gar bald überdrüſſig, und leſe wieder; das iſt nun entſetzlich traurig für mich, und jeder Geringſte kann daher mehr lernen als ich, und es wäre entſetzlich, wenn mir nicht der Ausweg zum Troſt übrig gelaſſen wäre, daß ich der ſchlechten Seite meines Kopfes gar nicht Schuld geben kann,
und
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ſie hat mir vorgeſungen; ſie iſt eine einzig liebenswürdige
Frau; jede Bewegung iſt ein Reiz, ein Zauber, ein Wahn-
witz zum Lachen und zum Weinen. Zum Glück ſeh’ ich nun
ihre Blicke immerfort, und geſtern hatt’ ich immer die Angſt,
ich würde ſie nicht behalten. Der Geſang; dieſes Girren,
der Ausdruck; es giebt nur Einen Ausdruck! Dieſe Güte
und Lieblichkeit, o wahrer Zauber! anerkannter, wirklicher;
das heißt Paſſion, das heißen Geſchenke von den Göttern;
das heißt Muſik; das heißt Schönheit. Empfinden Sie’s, ſo
iſt es gut für Sie, ſo können Sie es auch einmal genießen,
wenn Sie ihm begegnen. Geſchrieben habe ich nur für mich!
An David Veit, in Göttingen.
Berlin, den 18. November 1793.
— Nun will ich Ihnen genau ſagen, was ich von mei-
nem unrichtigen Schreiben weiß, ohne mich im geringſten ent-
ſchuldigen zu wollen; weil ich mich durch ihre Frage gar
nicht angeklagt fühle. Ich mag mir wirklich noch ſo viel
vornehmen, auf die Orthographie, während ich leſe, Acht zu
geben, ſo geſchieht’s faſt niemals; und bringe ich es einmal
gleich anfangs beim Leſen dahin, ſo leſe ich gar nicht, ſon-
dern ſehe nun nur wieder, wie die Wörter geſchrieben ſind;
deſſen werde ich gar bald überdrüſſig, und leſe wieder; das
iſt nun entſetzlich traurig für mich, und jeder Geringſte kann
daher mehr lernen als ich, und es wäre entſetzlich, wenn mir
nicht der Ausweg zum Troſt übrig gelaſſen wäre, daß ich der
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und
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/78>, abgerufen am 20.11.2024.
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