Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

sie hat mir vorgesungen; sie ist eine einzig liebenswürdige
Frau; jede Bewegung ist ein Reiz, ein Zauber, ein Wahn-
witz zum Lachen und zum Weinen. Zum Glück seh' ich nun
ihre Blicke immerfort, und gestern hatt' ich immer die Angst,
ich würde sie nicht behalten. Der Gesang; dieses Girren,
der Ausdruck; es giebt nur Einen Ausdruck! Diese Güte
und Lieblichkeit, o wahrer Zauber! anerkannter, wirklicher;
das heißt Passion, das heißen Geschenke von den Göttern;
das heißt Musik; das heißt Schönheit. Empfinden Sie's, so
ist es gut für Sie, so können Sie es auch einmal genießen,
wenn Sie ihm begegnen. Geschrieben habe ich nur für mich!



An David Veit, in Göttingen.


-- Nun will ich Ihnen genau sagen, was ich von mei-
nem unrichtigen Schreiben weiß, ohne mich im geringsten ent-
schuldigen zu wollen; weil ich mich durch ihre Frage gar
nicht angeklagt fühle. Ich mag mir wirklich noch so viel
vornehmen, auf die Orthographie, während ich lese, Acht zu
geben, so geschieht's fast niemals; und bringe ich es einmal
gleich anfangs beim Lesen dahin, so lese ich gar nicht, son-
dern sehe nun nur wieder, wie die Wörter geschrieben sind;
dessen werde ich gar bald überdrüssig, und lese wieder; das
ist nun entsetzlich traurig für mich, und jeder Geringste kann
daher mehr lernen als ich, und es wäre entsetzlich, wenn mir
nicht der Ausweg zum Trost übrig gelassen wäre, daß ich der
schlechten Seite meines Kopfes gar nicht Schuld geben kann,

und

ſie hat mir vorgeſungen; ſie iſt eine einzig liebenswürdige
Frau; jede Bewegung iſt ein Reiz, ein Zauber, ein Wahn-
witz zum Lachen und zum Weinen. Zum Glück ſeh’ ich nun
ihre Blicke immerfort, und geſtern hatt’ ich immer die Angſt,
ich würde ſie nicht behalten. Der Geſang; dieſes Girren,
der Ausdruck; es giebt nur Einen Ausdruck! Dieſe Güte
und Lieblichkeit, o wahrer Zauber! anerkannter, wirklicher;
das heißt Paſſion, das heißen Geſchenke von den Göttern;
das heißt Muſik; das heißt Schönheit. Empfinden Sie’s, ſo
iſt es gut für Sie, ſo können Sie es auch einmal genießen,
wenn Sie ihm begegnen. Geſchrieben habe ich nur für mich!



An David Veit, in Göttingen.


— Nun will ich Ihnen genau ſagen, was ich von mei-
nem unrichtigen Schreiben weiß, ohne mich im geringſten ent-
ſchuldigen zu wollen; weil ich mich durch ihre Frage gar
nicht angeklagt fühle. Ich mag mir wirklich noch ſo viel
vornehmen, auf die Orthographie, während ich leſe, Acht zu
geben, ſo geſchieht’s faſt niemals; und bringe ich es einmal
gleich anfangs beim Leſen dahin, ſo leſe ich gar nicht, ſon-
dern ſehe nun nur wieder, wie die Wörter geſchrieben ſind;
deſſen werde ich gar bald überdrüſſig, und leſe wieder; das
iſt nun entſetzlich traurig für mich, und jeder Geringſte kann
daher mehr lernen als ich, und es wäre entſetzlich, wenn mir
nicht der Ausweg zum Troſt übrig gelaſſen wäre, daß ich der
ſchlechten Seite meines Kopfes gar nicht Schuld geben kann,

und
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0078" n="64"/>
&#x017F;ie hat mir vorge&#x017F;ungen; &#x017F;ie i&#x017F;t eine <hi rendition="#g">einzig</hi> liebenswürdige<lb/>
Frau; <hi rendition="#g">jede</hi> Bewegung i&#x017F;t ein Reiz, ein Zauber, ein Wahn-<lb/>
witz zum Lachen und zum Weinen. Zum Glück &#x017F;eh&#x2019; ich nun<lb/>
ihre Blicke immerfort, und ge&#x017F;tern hatt&#x2019; ich immer die Ang&#x017F;t,<lb/>
ich würde &#x017F;ie nicht behalten. <hi rendition="#g">Der</hi> Ge&#x017F;ang; die&#x017F;es Girren,<lb/><hi rendition="#g">der</hi> Ausdruck; es giebt nur Einen Ausdruck! Die&#x017F;e Güte<lb/>
und Lieblichkeit, o wahrer Zauber! anerkannter, wirklicher;<lb/>
das heißt Pa&#x017F;&#x017F;ion, das heißen Ge&#x017F;chenke von den Göttern;<lb/>
das heißt Mu&#x017F;ik; das heißt Schönheit. Empfinden Sie&#x2019;s, &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t es gut für Sie, &#x017F;o können Sie es auch einmal genießen,<lb/>
wenn Sie ihm begegnen. Ge&#x017F;chrieben habe ich nur für mich!</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>An David Veit, in Göttingen.</head><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, den 18. November 1793.</hi> </dateline><lb/>
          <p>&#x2014; Nun will ich Ihnen genau &#x017F;agen, was ich von mei-<lb/>
nem unrichtigen Schreiben weiß, ohne mich im gering&#x017F;ten ent-<lb/>
&#x017F;chuldigen zu wollen; weil ich mich durch ihre <hi rendition="#g">Frage</hi> gar<lb/>
nicht angeklagt fühle. Ich mag mir wirklich noch &#x017F;o viel<lb/>
vornehmen, auf die Orthographie, während ich le&#x017F;e, Acht zu<lb/>
geben, &#x017F;o ge&#x017F;chieht&#x2019;s fa&#x017F;t niemals; und bringe ich es einmal<lb/>
gleich anfangs beim Le&#x017F;en dahin, &#x017F;o le&#x017F;e ich gar nicht, &#x017F;on-<lb/>
dern &#x017F;ehe nun nur wieder, wie die Wörter ge&#x017F;chrieben &#x017F;ind;<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en werde ich gar bald überdrü&#x017F;&#x017F;ig, und le&#x017F;e wieder; das<lb/>
i&#x017F;t nun ent&#x017F;etzlich traurig für mich, und jeder Gering&#x017F;te kann<lb/>
daher mehr lernen als ich, und es wäre ent&#x017F;etzlich, wenn mir<lb/>
nicht der Ausweg zum Tro&#x017F;t übrig gela&#x017F;&#x017F;en wäre, daß ich der<lb/>
&#x017F;chlechten Seite meines Kopfes gar nicht Schuld geben kann,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[64/0078] ſie hat mir vorgeſungen; ſie iſt eine einzig liebenswürdige Frau; jede Bewegung iſt ein Reiz, ein Zauber, ein Wahn- witz zum Lachen und zum Weinen. Zum Glück ſeh’ ich nun ihre Blicke immerfort, und geſtern hatt’ ich immer die Angſt, ich würde ſie nicht behalten. Der Geſang; dieſes Girren, der Ausdruck; es giebt nur Einen Ausdruck! Dieſe Güte und Lieblichkeit, o wahrer Zauber! anerkannter, wirklicher; das heißt Paſſion, das heißen Geſchenke von den Göttern; das heißt Muſik; das heißt Schönheit. Empfinden Sie’s, ſo iſt es gut für Sie, ſo können Sie es auch einmal genießen, wenn Sie ihm begegnen. Geſchrieben habe ich nur für mich! An David Veit, in Göttingen. Berlin, den 18. November 1793. — Nun will ich Ihnen genau ſagen, was ich von mei- nem unrichtigen Schreiben weiß, ohne mich im geringſten ent- ſchuldigen zu wollen; weil ich mich durch ihre Frage gar nicht angeklagt fühle. Ich mag mir wirklich noch ſo viel vornehmen, auf die Orthographie, während ich leſe, Acht zu geben, ſo geſchieht’s faſt niemals; und bringe ich es einmal gleich anfangs beim Leſen dahin, ſo leſe ich gar nicht, ſon- dern ſehe nun nur wieder, wie die Wörter geſchrieben ſind; deſſen werde ich gar bald überdrüſſig, und leſe wieder; das iſt nun entſetzlich traurig für mich, und jeder Geringſte kann daher mehr lernen als ich, und es wäre entſetzlich, wenn mir nicht der Ausweg zum Troſt übrig gelaſſen wäre, daß ich der ſchlechten Seite meines Kopfes gar nicht Schuld geben kann, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/78
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/78>, abgerufen am 20.11.2024.