Dresden, Montag früh gegen 10 Uhr den 16. September 1811.
Lieber guter Varnhagen. Wie ist dir? -- Wie ist ihm; wie ist ihm jetzt? dacht' ich den ganzen Weg her; im schön- sten Nebel, in der hellsten, reichsten, lichtesten Wundersonne; allein, und mit Andern; bei Nacht und des Mittags. Gestern war dir am ärgsten, gestern Abend: da war die Sonne rund um die Erde, und du hattest deine Liebste nicht gesehen: und viele solche Tage sollen vergehen! Lieber! Höre zum Troste, daß ich mich weit mehr über das Getrenntsein von dir gräme, als ich's je gedacht hätte. Auch mir ist ganz ängstlich: ich fühle mich plötzlich so abgerissen, von Schutz, Sicherheit, und Liebe, daß ich rund um mich herum gehen könnte, um nur zu sehen, um nur zu finden: zu wem gehörst du denn? zu was? Gestern machte ich gegen Abend den hertlichsten Gang mit Marwitz und Lippe, wohl eine Meile, die Ostrawiese hinauf. Du weißt, ob und wie ich Marwitz liebe, es waren zwei Freunde: wir gingen manchmal still, groß und göttlich war der weite Raum, die prachtvolle Sonne und Abendröthe, die ernsten und ganz andern Bäume als in Böhmen, die unend- lichen Alleen; allein ich mußte denken, allein und fremd bist du hier, wenn diese Beiden nicht mitgehen wollen; allein und fremd, wenn sie auch neben dir bleiben; du bist nicht ihr Lieb- stes, sie beziehen nicht alles auf dich. Wie gewiß lebt' ich bisher! Und ich war nicht undankbar, Varnhagen! nimm es nicht so roh, wie das Wort hier dasteht: es war nicht nur
An Varnhagen, in Töplitz.
Dresden, Montag früh gegen 10 Uhr den 16. September 1811.
Lieber guter Varnhagen. Wie iſt dir? — Wie iſt ihm; wie iſt ihm jetzt? dacht’ ich den ganzen Weg her; im ſchön- ſten Nebel, in der hellſten, reichſten, lichteſten Wunderſonne; allein, und mit Andern; bei Nacht und des Mittags. Geſtern war dir am ärgſten, geſtern Abend: da war die Sonne rund um die Erde, und du hatteſt deine Liebſte nicht geſehen: und viele ſolche Tage ſollen vergehen! Lieber! Höre zum Troſte, daß ich mich weit mehr über das Getrenntſein von dir gräme, als ich’s je gedacht hätte. Auch mir iſt ganz ängſtlich: ich fühle mich plötzlich ſo abgeriſſen, von Schutz, Sicherheit, und Liebe, daß ich rund um mich herum gehen könnte, um nur zu ſehen, um nur zu finden: zu wem gehörſt du denn? zu was? Geſtern machte ich gegen Abend den hertlichſten Gang mit Marwitz und Lippe, wohl eine Meile, die Oſtrawieſe hinauf. Du weißt, ob und wie ich Marwitz liebe, es waren zwei Freunde: wir gingen manchmal ſtill, groß und göttlich war der weite Raum, die prachtvolle Sonne und Abendröthe, die ernſten und ganz andern Bäume als in Böhmen, die unend- lichen Alleen; allein ich mußte denken, allein und fremd biſt du hier, wenn dieſe Beiden nicht mitgehen wollen; allein und fremd, wenn ſie auch neben dir bleiben; du biſt nicht ihr Lieb- ſtes, ſie beziehen nicht alles auf dich. Wie gewiß lebt’ ich bisher! Und ich war nicht undankbar, Varnhagen! nimm es nicht ſo roh, wie das Wort hier daſteht: es war nicht nur
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[526/0540]
An Varnhagen, in Töplitz.
Dresden, Montag früh gegen 10 Uhr
den 16. September 1811.
Lieber guter Varnhagen. Wie iſt dir? — Wie iſt ihm;
wie iſt ihm jetzt? dacht’ ich den ganzen Weg her; im ſchön-
ſten Nebel, in der hellſten, reichſten, lichteſten Wunderſonne;
allein, und mit Andern; bei Nacht und des Mittags. Geſtern
war dir am ärgſten, geſtern Abend: da war die Sonne rund
um die Erde, und du hatteſt deine Liebſte nicht geſehen: und
viele ſolche Tage ſollen vergehen! Lieber! Höre zum Troſte,
daß ich mich weit mehr über das Getrenntſein von dir gräme,
als ich’s je gedacht hätte. Auch mir iſt ganz ängſtlich: ich
fühle mich plötzlich ſo abgeriſſen, von Schutz, Sicherheit, und
Liebe, daß ich rund um mich herum gehen könnte, um nur zu
ſehen, um nur zu finden: zu wem gehörſt du denn? zu was?
Geſtern machte ich gegen Abend den hertlichſten Gang mit
Marwitz und Lippe, wohl eine Meile, die Oſtrawieſe hinauf.
Du weißt, ob und wie ich Marwitz liebe, es waren zwei
Freunde: wir gingen manchmal ſtill, groß und göttlich war
der weite Raum, die prachtvolle Sonne und Abendröthe, die
ernſten und ganz andern Bäume als in Böhmen, die unend-
lichen Alleen; allein ich mußte denken, allein und fremd biſt
du hier, wenn dieſe Beiden nicht mitgehen wollen; allein und
fremd, wenn ſie auch neben dir bleiben; du biſt nicht ihr Lieb-
ſtes, ſie beziehen nicht alles auf dich. Wie gewiß lebt’ ich
bisher! Und ich war nicht undankbar, Varnhagen! nimm es
nicht ſo roh, wie das Wort hier daſteht: es war nicht nur
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 526. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/540>, abgerufen am 20.11.2024.
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