und eine lebenslängliche Verheimlichung, Unterdrückung dieses Bedürfnisses, des innersten Seins, dieses Bluts-Nerven-Denk- und Geistesverhältnisses, hat es nicht geändert, getödtet: nein! ausgewachsen ist es, zum mich tödtenden Leben-Giganten ist es geworden! Fürchte dich nicht! Ich werde mich besänftigen. Aber wie ein schwarzer, dicker, tiefer Höllenfluß wogt's schmerz- haft drückend in mir herauf; keine Welle noch zu unterschei- den, daß des Geistes- oder das Sonnenlicht andere Bilder in ihnen spiegeln könnte! Furcht wird's, reine Furcht! --
Berlin, den 17. December 1808.
Was du mir über den Meister geschickt hast, hat mich ganz besonders gefreut. -- Das ganze Buch ist für mich nur ein Gewächs, um den Kern als Text herumgewachsen, der im Buche selbst vorkommt, und so lautet: "O wie sonderbar ist es, daß dem Menschen nicht allein so manches Unmögliche, sondern auch so manches Mögliche versagt ist!" Du kennst die Stelle von mir. Und dann die andre, daß dem Menschen jeder Strich Erde, Fluß und alles genommen ist. Mit einem Zauberschlage hat Goethe durch dies Buch die ganze Prosa unsers infamen, kleinen Lebens festgehalten, und uns noch anständig genug vorgehalten. Daran hielten wir, als er uns schilderte; und an Theater mußte er, an Kunst, und auch an Schwindelei den Bürger verweisen, der sein Elend fühlte, und sich nicht mit Werther tödten wollte. Den Adel wie er ist, und der den Andern als Arena -- ich weiß das Wort jetzt nicht -- vorschwebt, als wo sie hin wollen, zeigt er beiläufig, gut und schlecht, wie es fällt. Dann bleibt noch die Liebe; und
und eine lebenslängliche Verheimlichung, Unterdrückung dieſes Bedürfniſſes, des innerſten Seins, dieſes Bluts-Nerven-Denk- und Geiſtesverhältniſſes, hat es nicht geändert, getödtet: nein! ausgewachſen iſt es, zum mich tödtenden Leben-Giganten iſt es geworden! Fürchte dich nicht! Ich werde mich beſänftigen. Aber wie ein ſchwarzer, dicker, tiefer Höllenfluß wogt’s ſchmerz- haft drückend in mir herauf; keine Welle noch zu unterſchei- den, daß des Geiſtes- oder das Sonnenlicht andere Bilder in ihnen ſpiegeln könnte! Furcht wird’s, reine Furcht! —
Berlin, den 17. December 1808.
Was du mir über den Meiſter geſchickt haſt, hat mich ganz beſonders gefreut. — Das ganze Buch iſt für mich nur ein Gewächs, um den Kern als Text herumgewachſen, der im Buche ſelbſt vorkommt, und ſo lautet: „O wie ſonderbar iſt es, daß dem Menſchen nicht allein ſo manches Unmögliche, ſondern auch ſo manches Mögliche verſagt iſt!“ Du kennſt die Stelle von mir. Und dann die andre, daß dem Menſchen jeder Strich Erde, Fluß und alles genommen iſt. Mit einem Zauberſchlage hat Goethe durch dies Buch die ganze Proſa unſers infamen, kleinen Lebens feſtgehalten, und uns noch anſtändig genug vorgehalten. Daran hielten wir, als er uns ſchilderte; und an Theater mußte er, an Kunſt, und auch an Schwindelei den Bürger verweiſen, der ſein Elend fühlte, und ſich nicht mit Werther tödten wollte. Den Adel wie er iſt, und der den Andern als Arena — ich weiß das Wort jetzt nicht — vorſchwebt, als wo ſie hin wollen, zeigt er beiläufig, gut und ſchlecht, wie es fällt. Dann bleibt noch die Liebe; und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0397"n="383"/>
und eine lebenslängliche Verheimlichung, Unterdrückung dieſes<lb/>
Bedürfniſſes, des innerſten Seins, dieſes Bluts-Nerven-Denk-<lb/>
und Geiſtesverhältniſſes, hat es nicht geändert, getödtet: nein!<lb/>
ausgewachſen iſt es, zum mich tödtenden Leben-Giganten iſt<lb/>
es geworden! Fürchte dich nicht! Ich werde mich beſänftigen.<lb/>
Aber wie ein ſchwarzer, dicker, tiefer Höllenfluß wogt’s ſchmerz-<lb/>
haft drückend in mir herauf; keine Welle noch zu unterſchei-<lb/>
den, daß des Geiſtes- oder das Sonnenlicht andere Bilder in<lb/>
ihnen ſpiegeln könnte! Furcht wird’s, <hirendition="#g">reine</hi> Furcht! —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Berlin, den 17. December 1808.</hi></dateline><lb/><p>Was du mir über den Meiſter geſchickt haſt, hat mich<lb/>
ganz beſonders gefreut. — Das ganze Buch iſt für mich nur<lb/>
ein Gewächs, um den Kern als Text herumgewachſen, der im<lb/>
Buche ſelbſt vorkommt, und ſo lautet: „O wie ſonderbar iſt<lb/>
es, daß dem Menſchen nicht allein ſo manches Unmögliche,<lb/>ſondern auch ſo manches Mögliche verſagt iſt!“ Du kennſt<lb/>
die Stelle von mir. Und dann die andre, daß dem Menſchen<lb/>
jeder Strich Erde, Fluß und alles genommen iſt. Mit einem<lb/>
Zauberſchlage hat Goethe durch dies Buch die ganze Proſa<lb/>
unſers infamen, kleinen Lebens feſtgehalten, und uns noch<lb/>
anſtändig genug vorgehalten. Daran hielten wir, als er uns<lb/>ſchilderte; und an Theater mußte er, an Kunſt, und auch an<lb/>
Schwindelei den Bürger verweiſen, der ſein Elend fühlte, und<lb/>ſich nicht mit Werther tödten wollte. Den Adel wie er iſt,<lb/>
und der den Andern als Arena — ich weiß das Wort jetzt nicht<lb/>— vorſchwebt, als wo ſie hin wollen, zeigt er beiläufig, gut<lb/>
und ſchlecht, wie es fällt. Dann bleibt noch die Liebe; und<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[383/0397]
und eine lebenslängliche Verheimlichung, Unterdrückung dieſes
Bedürfniſſes, des innerſten Seins, dieſes Bluts-Nerven-Denk-
und Geiſtesverhältniſſes, hat es nicht geändert, getödtet: nein!
ausgewachſen iſt es, zum mich tödtenden Leben-Giganten iſt
es geworden! Fürchte dich nicht! Ich werde mich beſänftigen.
Aber wie ein ſchwarzer, dicker, tiefer Höllenfluß wogt’s ſchmerz-
haft drückend in mir herauf; keine Welle noch zu unterſchei-
den, daß des Geiſtes- oder das Sonnenlicht andere Bilder in
ihnen ſpiegeln könnte! Furcht wird’s, reine Furcht! —
Berlin, den 17. December 1808.
Was du mir über den Meiſter geſchickt haſt, hat mich
ganz beſonders gefreut. — Das ganze Buch iſt für mich nur
ein Gewächs, um den Kern als Text herumgewachſen, der im
Buche ſelbſt vorkommt, und ſo lautet: „O wie ſonderbar iſt
es, daß dem Menſchen nicht allein ſo manches Unmögliche,
ſondern auch ſo manches Mögliche verſagt iſt!“ Du kennſt
die Stelle von mir. Und dann die andre, daß dem Menſchen
jeder Strich Erde, Fluß und alles genommen iſt. Mit einem
Zauberſchlage hat Goethe durch dies Buch die ganze Proſa
unſers infamen, kleinen Lebens feſtgehalten, und uns noch
anſtändig genug vorgehalten. Daran hielten wir, als er uns
ſchilderte; und an Theater mußte er, an Kunſt, und auch an
Schwindelei den Bürger verweiſen, der ſein Elend fühlte, und
ſich nicht mit Werther tödten wollte. Den Adel wie er iſt,
und der den Andern als Arena — ich weiß das Wort jetzt nicht
— vorſchwebt, als wo ſie hin wollen, zeigt er beiläufig, gut
und ſchlecht, wie es fällt. Dann bleibt noch die Liebe; und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/397>, abgerufen am 30.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.