Endlich bin ich verdrießlich. Weißt du, was das heißt! Aber was kommt auch zusammen. Die Jahreszeit selbst wird toll: und schon seit dem Juli -- du wirst es lächerlich finden -- konvulsirt der Winter in den Sommer hinein! -- Seit gestern quäle ich mich damit, ob ich dir schreibe, oder nicht. Lügen kann ich gar nicht: bei dir grade tritt die ganze Wahrheit hervor. Und doch habe ich dir auch Hübsches zu schreiben. -- O! die Gaben, die ich habe, hat man nicht umsonst! Dafür muß man ausstehen. Mein scharfes Wissen, Sondern, und Scheiden; das große Meer in mir, mein präziser, tiefer, gro- ßer Zusammenhang mit der Natur; kurz, das bischen Be- wußtsein darüber, was hier doch so viel ist; kostet mich was! Welche Schmerzen, welche Unruh, welches Vermissen läßt das aufschießen; und wie muß ich es verarbeiten! Ich zweifle, daß du selbst einen Begriff davon hast! Und wie ekelhaft, herabziehend, ärgerlich, beleidigend, unsinnig, schwächlich, nie- drig meine Umgebungen, denen ich nicht entfliehen kann: und die, so lang ich es nicht kann, mich auch verfolgen: ein gelindes Ausweichen hilft gar nichts. Ein einziges Besudlen, eine Berührung macht mich schmutzig, stört meinen Adel. Dieser Kampf dauert ewig! So lang ich gelebt habe, und leben werde! Wodurch soll er enden? Diese Einsicht, nicht daß es bleibt, aber daß meine Konvulsionen umsonst sind, und doch nur mit allen meinen Kräften aufhören können, bringt hart an Raserei! Alles was mir Schönes im Leben
An Varnhagen, in Tübingen.
Sonnabend Morgen, den 5. November 1808.
Endlich bin ich verdrießlich. Weißt du, was das heißt! Aber was kommt auch zuſammen. Die Jahreszeit ſelbſt wird toll: und ſchon ſeit dem Juli — du wirſt es lächerlich finden — konvulſirt der Winter in den Sommer hinein! — Seit geſtern quäle ich mich damit, ob ich dir ſchreibe, oder nicht. Lügen kann ich gar nicht: bei dir grade tritt die ganze Wahrheit hervor. Und doch habe ich dir auch Hübſches zu ſchreiben. — O! die Gaben, die ich habe, hat man nicht umſonſt! Dafür muß man ausſtehen. Mein ſcharfes Wiſſen, Sondern, und Scheiden; das große Meer in mir, mein präziſer, tiefer, gro- ßer Zuſammenhang mit der Natur; kurz, das bischen Be- wußtſein darüber, was hier doch ſo viel iſt; koſtet mich was! Welche Schmerzen, welche Unruh, welches Vermiſſen läßt das aufſchießen; und wie muß ich es verarbeiten! Ich zweifle, daß du ſelbſt einen Begriff davon haſt! Und wie ekelhaft, herabziehend, ärgerlich, beleidigend, unſinnig, ſchwächlich, nie- drig meine Umgebungen, denen ich nicht entfliehen kann: und die, ſo lang ich es nicht kann, mich auch verfolgen: ein gelindes Ausweichen hilft gar nichts. Ein einziges Beſudlen, eine Berührung macht mich ſchmutzig, ſtört meinen Adel. Dieſer Kampf dauert ewig! So lang ich gelebt habe, und leben werde! Wodurch ſoll er enden? Dieſe Einſicht, nicht daß es bleibt, aber daß meine Konvulſionen umſonſt ſind, und doch nur mit allen meinen Kräften aufhören können, bringt hart an Raſerei! Alles was mir Schönes im Leben
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0372"n="358"/><divn="2"><head>An Varnhagen, in Tübingen.</head><lb/><dateline><hirendition="#et">Sonnabend Morgen, den 5. November 1808.</hi></dateline><lb/><p>Endlich bin ich verdrießlich. Weißt du, was das heißt!<lb/>
Aber was kommt auch zuſammen. Die Jahreszeit ſelbſt wird<lb/>
toll: und ſchon ſeit dem Juli — du wirſt es lächerlich finden<lb/>— konvulſirt der Winter in den Sommer hinein! — Seit<lb/>
geſtern quäle ich mich damit, ob ich dir ſchreibe, oder nicht.<lb/>
Lügen kann ich gar nicht: bei dir grade tritt die ganze Wahrheit<lb/>
hervor. Und doch habe ich dir auch Hübſches zu ſchreiben. —<lb/>
O! die Gaben, die ich habe, hat man nicht umſonſt! Dafür<lb/>
muß man ausſtehen. Mein ſcharfes Wiſſen, Sondern, und<lb/>
Scheiden; das große Meer in mir, mein präziſer, tiefer, gro-<lb/>
ßer Zuſammenhang mit der Natur; kurz, das bischen Be-<lb/>
wußtſein darüber, was hier doch ſo viel iſt; koſtet mich was!<lb/>
Welche Schmerzen, welche Unruh, welches Vermiſſen läßt das<lb/>
aufſchießen; und wie muß ich es verarbeiten! Ich zweifle,<lb/>
daß du ſelbſt einen Begriff davon haſt! Und wie ekelhaft,<lb/>
herabziehend, ärgerlich, beleidigend, <hirendition="#g">unſ</hi>innig, ſchwächlich, nie-<lb/>
drig meine Umgebungen, denen ich nicht entfliehen <hirendition="#g">kann</hi>:<lb/>
und die, ſo lang ich es nicht kann, mich auch verfolgen: ein<lb/>
gelindes Ausweichen hilft gar nichts. Ein einziges Beſudlen,<lb/><hirendition="#g">eine</hi> Berührung macht mich ſchmutzig, ſtört meinen Adel.<lb/>
Dieſer Kampf dauert <hirendition="#g">ewig</hi>! So lang ich gelebt habe, und<lb/>
leben werde! Wodurch ſoll er enden? Dieſe Einſicht, nicht<lb/>
daß es bleibt, aber daß meine Konvulſionen umſonſt ſind,<lb/>
und doch nur mit allen meinen Kräften aufhören können,<lb/>
bringt hart an Raſerei! Alles was mir Schönes im Leben<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[358/0372]
An Varnhagen, in Tübingen.
Sonnabend Morgen, den 5. November 1808.
Endlich bin ich verdrießlich. Weißt du, was das heißt!
Aber was kommt auch zuſammen. Die Jahreszeit ſelbſt wird
toll: und ſchon ſeit dem Juli — du wirſt es lächerlich finden
— konvulſirt der Winter in den Sommer hinein! — Seit
geſtern quäle ich mich damit, ob ich dir ſchreibe, oder nicht.
Lügen kann ich gar nicht: bei dir grade tritt die ganze Wahrheit
hervor. Und doch habe ich dir auch Hübſches zu ſchreiben. —
O! die Gaben, die ich habe, hat man nicht umſonſt! Dafür
muß man ausſtehen. Mein ſcharfes Wiſſen, Sondern, und
Scheiden; das große Meer in mir, mein präziſer, tiefer, gro-
ßer Zuſammenhang mit der Natur; kurz, das bischen Be-
wußtſein darüber, was hier doch ſo viel iſt; koſtet mich was!
Welche Schmerzen, welche Unruh, welches Vermiſſen läßt das
aufſchießen; und wie muß ich es verarbeiten! Ich zweifle,
daß du ſelbſt einen Begriff davon haſt! Und wie ekelhaft,
herabziehend, ärgerlich, beleidigend, unſinnig, ſchwächlich, nie-
drig meine Umgebungen, denen ich nicht entfliehen kann:
und die, ſo lang ich es nicht kann, mich auch verfolgen: ein
gelindes Ausweichen hilft gar nichts. Ein einziges Beſudlen,
eine Berührung macht mich ſchmutzig, ſtört meinen Adel.
Dieſer Kampf dauert ewig! So lang ich gelebt habe, und
leben werde! Wodurch ſoll er enden? Dieſe Einſicht, nicht
daß es bleibt, aber daß meine Konvulſionen umſonſt ſind,
und doch nur mit allen meinen Kräften aufhören können,
bringt hart an Raſerei! Alles was mir Schönes im Leben
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/372>, abgerufen am 20.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.