Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

ich. Dein Vorschlag, mir und der Guten, so zu sagen, zu-
gleich zu schreiben, widersteht mir. Fühl doch, daß du un-
möglich mit der Geistesvigueur, und Freiheit, und Scherz, in
allem Ernst und Kürze über jede Sache an sie schreiben kannst,
als an mich! und daß unwillkürlich dadurch der Brief schon
anders wird: obgleich deinem gestrigen nichts anzumerken ist.
Glaubst du denn nicht, daß ich auch deine Briefe aufbewah-
ren würde? und über Staaten, Völker, und Litteratur, sogar
Racen, das ist ja alles für mich. Doch wie du willst.



An Frau von F., in Berlin.


-- Liebe Freundin! Lassen Sie große Herzen für sich
mitgelitten haben; entzünden solche Geister das Licht des
Ihrigen früher! Haben Sie nur den Willen sich zu heilen
-- es ist wie eine Wunde: auch sie entzündet fieberhaft
jedes Lebensprinzip, -- verbannen Sie, wenn es nur möglich
ist, das Willkürliche, wahrhaft Leidenschaftliche! Hören Sie
auf Goethe -- mit Thränen schreibe ich den Namen dieses
Vermittlers in Erinnerung großer Drangsale, -- der es im
Meister deutlich sagt, daß die Jugend zu viel Kräfte zu
haben glaubt, und sie aus Willkür dem verlorenen Gute wie
nachwirft. Er sagt es anders. Lesen Sie es nach, liebe
Tochter, wie man die Bibel im Unglück liest: wo Meister
Marianen verliert, im ersten Bande steht es; er wird krank,
und Goethe schließt ein Kapitel damit; es ist eine Götter-
stelle, ein Wolkenspruch über diesen Drang der Jugend.

ich. Dein Vorſchlag, mir und der Guten, ſo zu ſagen, zu-
gleich zu ſchreiben, widerſteht mir. Fühl doch, daß du un-
möglich mit der Geiſtesvigueur, und Freiheit, und Scherz, in
allem Ernſt und Kürze über jede Sache an ſie ſchreiben kannſt,
als an mich! und daß unwillkürlich dadurch der Brief ſchon
anders wird: obgleich deinem geſtrigen nichts anzumerken iſt.
Glaubſt du denn nicht, daß ich auch deine Briefe aufbewah-
ren würde? und über Staaten, Völker, und Litteratur, ſogar
Racen, das iſt ja alles für mich. Doch wie du willſt.



An Frau von F., in Berlin.


— Liebe Freundin! Laſſen Sie große Herzen für ſich
mitgelitten haben; entzünden ſolche Geiſter das Licht des
Ihrigen früher! Haben Sie nur den Willen ſich zu heilen
— es iſt wie eine Wunde: auch ſie entzündet fieberhaft
jedes Lebensprinzip, — verbannen Sie, wenn es nur möglich
iſt, das Willkürliche, wahrhaft Leidenſchaftliche! Hören Sie
auf Goethe — mit Thränen ſchreibe ich den Namen dieſes
Vermittlers in Erinnerung großer Drangſale, — der es im
Meiſter deutlich ſagt, daß die Jugend zu viel Kräfte zu
haben glaubt, und ſie aus Willkür dem verlorenen Gute wie
nachwirft. Er ſagt es anders. Leſen Sie es nach, liebe
Tochter, wie man die Bibel im Unglück lieſt: wo Meiſter
Marianen verliert, im erſten Bande ſteht es; er wird krank,
und Goethe ſchließt ein Kapitel damit; es iſt eine Götter-
ſtelle, ein Wolkenſpruch über dieſen Drang der Jugend.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0307" n="293"/>
ich. Dein Vor&#x017F;chlag, mir und der Guten, &#x017F;o zu &#x017F;agen, zu-<lb/>
gleich zu &#x017F;chreiben, wider&#x017F;teht mir. Fühl doch, daß du un-<lb/>
möglich mit der Gei&#x017F;tesvigueur, und Freiheit, und Scherz, in<lb/>
allem Ern&#x017F;t und Kürze über jede Sache an &#x017F;ie &#x017F;chreiben kann&#x017F;t,<lb/>
als an mich! und daß unwillkürlich dadurch der Brief &#x017F;chon<lb/>
anders wird: obgleich deinem ge&#x017F;trigen nichts anzumerken i&#x017F;t.<lb/>
Glaub&#x017F;t du denn nicht, daß <hi rendition="#g">ich</hi> auch deine Briefe aufbewah-<lb/>
ren würde? und über Staaten, Völker, und Litteratur, &#x017F;ogar<lb/>
Racen, das i&#x017F;t ja alles für mich. Doch wie du will&#x017F;t.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>An Frau von F., in Berlin.</head><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, Sommer 1806.</hi> </dateline><lb/>
          <p>&#x2014; Liebe Freundin! La&#x017F;&#x017F;en Sie große Herzen für &#x017F;ich<lb/>
mitgelitten haben; entzünden &#x017F;olche Gei&#x017F;ter das Licht des<lb/>
Ihrigen früher! Haben Sie nur den <hi rendition="#g">Willen</hi> &#x017F;ich zu heilen<lb/>
&#x2014; es i&#x017F;t wie eine <hi rendition="#g">Wunde</hi>: auch &#x017F;ie entzündet fieberhaft<lb/>
jedes Lebensprinzip, &#x2014; verbannen Sie, wenn es nur möglich<lb/>
i&#x017F;t, das Willkürliche, wahrhaft Leiden&#x017F;chaftliche! <hi rendition="#g">Hören</hi> Sie<lb/>
auf Goethe &#x2014; mit Thränen &#x017F;chreibe ich den Namen die&#x017F;es<lb/>
Vermittlers in Erinnerung großer Drang&#x017F;ale, &#x2014; der es im<lb/>
Mei&#x017F;ter deutlich <hi rendition="#g">&#x017F;agt</hi>, daß die Jugend zu viel Kräfte zu<lb/>
haben glaubt, und &#x017F;ie aus Willkür dem verlorenen Gute wie<lb/>
nachwirft. Er &#x017F;agt es anders. Le&#x017F;en Sie es nach, liebe<lb/>
Tochter, wie man die Bibel im Unglück lie&#x017F;t: wo Mei&#x017F;ter<lb/>
Marianen verliert, im er&#x017F;ten Bande &#x017F;teht es; er wird krank,<lb/>
und Goethe &#x017F;chließt ein Kapitel damit; es i&#x017F;t eine Götter-<lb/>
&#x017F;telle, ein Wolken&#x017F;pruch über die&#x017F;en Drang der Jugend.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[293/0307] ich. Dein Vorſchlag, mir und der Guten, ſo zu ſagen, zu- gleich zu ſchreiben, widerſteht mir. Fühl doch, daß du un- möglich mit der Geiſtesvigueur, und Freiheit, und Scherz, in allem Ernſt und Kürze über jede Sache an ſie ſchreiben kannſt, als an mich! und daß unwillkürlich dadurch der Brief ſchon anders wird: obgleich deinem geſtrigen nichts anzumerken iſt. Glaubſt du denn nicht, daß ich auch deine Briefe aufbewah- ren würde? und über Staaten, Völker, und Litteratur, ſogar Racen, das iſt ja alles für mich. Doch wie du willſt. An Frau von F., in Berlin. Berlin, Sommer 1806. — Liebe Freundin! Laſſen Sie große Herzen für ſich mitgelitten haben; entzünden ſolche Geiſter das Licht des Ihrigen früher! Haben Sie nur den Willen ſich zu heilen — es iſt wie eine Wunde: auch ſie entzündet fieberhaft jedes Lebensprinzip, — verbannen Sie, wenn es nur möglich iſt, das Willkürliche, wahrhaft Leidenſchaftliche! Hören Sie auf Goethe — mit Thränen ſchreibe ich den Namen dieſes Vermittlers in Erinnerung großer Drangſale, — der es im Meiſter deutlich ſagt, daß die Jugend zu viel Kräfte zu haben glaubt, und ſie aus Willkür dem verlorenen Gute wie nachwirft. Er ſagt es anders. Leſen Sie es nach, liebe Tochter, wie man die Bibel im Unglück lieſt: wo Meiſter Marianen verliert, im erſten Bande ſteht es; er wird krank, und Goethe ſchließt ein Kapitel damit; es iſt eine Götter- ſtelle, ein Wolkenſpruch über dieſen Drang der Jugend.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/307
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/307>, abgerufen am 20.11.2024.