Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite
II Th. Nervenkr. 4 K. Verh. zu den th. Seelenkr.
§. 559.

Der Wehrtrieb der Thiere, wodurch sie bewogen
werden, sich ihrer natürlichen Waffen in den Gefahren zu
bedienen, welchen sie am meisten ausgesetzet sind, ist nichts
anders als eine besondre Art des Triebes zu willkührlichen
Bewegungen. §. 288. Da nun die Seelenwirkungen des
letztern durch bloße Nervenwirkungen vollkommen ersetzet
werden können, §. 555 -- 557. so sind auch die Seelen-
wirkungen des Wehrtriebes davon nicht ausgenommen.
Eben dieselben äußern sinnlichen Eindrücke, welche, wenn
sie ein Thier empfindet, durch die Erregung seines Wehr-
triebes gewisse thierische Bewegungen als seine Seelenwir-
kungen veranlassen, bringen auch wenn sie nicht empfun-
den werden, und den Trieb unmöglich erregen können, eben
dieselben thierischen Bewegungen hervor. Wenn man
den Bauch eines Ohrwurms schmerzlich berühret, so erhebt
er die äußerste Spitze desselben, thut seine Zangen auf und
kneipt sie fest wieder zusammen, um, wie es scheint, sich
zu wehren. Jst dieß in diesem Falle wirklich die Seelen-
wirkung seines Wehrtriebes, so kann sie es unmöglich seyn,
wenn der Bauch vom übrigen Körper völlig abgeschnitten
ist, und dennoch machen die Zangen von eben denselben
Berührungen desselben eben dieselben thierischen Bewegun-
gen. Man glaubt, daß es eine Seelenwirkung des Wehr-
triebes sey, wenn die Bienen, die man ergreift, ihren
Stachel ausstecken, um zn stechen. Unstreitig ist es eine
bloße Nervenwirkung, wenn es ein ergriffener Bienenbauch
ebenfalls thut, den man vom übrigen Körper abgeschnit-
ten hat. Ein Pferd, dem eine Canonenkugel den Kopf
genommen, schlägt, wenn es hingestürzet ist, eben so hin-
ter sich aus, wie es durch seinen Wehrtrieb zu thun pflegt,
wenn es ein andrer Zufall niederstürzet. Eine abgebro-
chene Hummerscheere kneipt, wenn ihr Fleisch gereizet wird,
eben so, als ob der Wehrtrieb in sie wirkete; und so bestä-
tigen es noch viel hundert andre Erfahrungen unwider-
sprechlich, daß auch die Seelenwirkungen des Wehrtriebes

von
II Th. Nervenkr. 4 K. Verh. zu den th. Seelenkr.
§. 559.

Der Wehrtrieb der Thiere, wodurch ſie bewogen
werden, ſich ihrer natuͤrlichen Waffen in den Gefahren zu
bedienen, welchen ſie am meiſten ausgeſetzet ſind, iſt nichts
anders als eine beſondre Art des Triebes zu willkuͤhrlichen
Bewegungen. §. 288. Da nun die Seelenwirkungen des
letztern durch bloße Nervenwirkungen vollkommen erſetzet
werden koͤnnen, §. 555 — 557. ſo ſind auch die Seelen-
wirkungen des Wehrtriebes davon nicht ausgenommen.
Eben dieſelben aͤußern ſinnlichen Eindruͤcke, welche, wenn
ſie ein Thier empfindet, durch die Erregung ſeines Wehr-
triebes gewiſſe thieriſche Bewegungen als ſeine Seelenwir-
kungen veranlaſſen, bringen auch wenn ſie nicht empfun-
den werden, und den Trieb unmoͤglich erregen koͤnnen, eben
dieſelben thieriſchen Bewegungen hervor. Wenn man
den Bauch eines Ohrwurms ſchmerzlich beruͤhret, ſo erhebt
er die aͤußerſte Spitze deſſelben, thut ſeine Zangen auf und
kneipt ſie feſt wieder zuſammen, um, wie es ſcheint, ſich
zu wehren. Jſt dieß in dieſem Falle wirklich die Seelen-
wirkung ſeines Wehrtriebes, ſo kann ſie es unmoͤglich ſeyn,
wenn der Bauch vom uͤbrigen Koͤrper voͤllig abgeſchnitten
iſt, und dennoch machen die Zangen von eben denſelben
Beruͤhrungen deſſelben eben dieſelben thieriſchen Bewegun-
gen. Man glaubt, daß es eine Seelenwirkung des Wehr-
triebes ſey, wenn die Bienen, die man ergreift, ihren
Stachel ausſtecken, um zn ſtechen. Unſtreitig iſt es eine
bloße Nervenwirkung, wenn es ein ergriffener Bienenbauch
ebenfalls thut, den man vom uͤbrigen Koͤrper abgeſchnit-
ten hat. Ein Pferd, dem eine Canonenkugel den Kopf
genommen, ſchlaͤgt, wenn es hingeſtuͤrzet iſt, eben ſo hin-
ter ſich aus, wie es durch ſeinen Wehrtrieb zu thun pflegt,
wenn es ein andrer Zufall niederſtuͤrzet. Eine abgebro-
chene Hummerſcheere kneipt, wenn ihr Fleiſch gereizet wird,
eben ſo, als ob der Wehrtrieb in ſie wirkete; und ſo beſtaͤ-
tigen es noch viel hundert andre Erfahrungen unwider-
ſprechlich, daß auch die Seelenwirkungen des Wehrtriebes

von
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0584" n="560"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II</hi> Th. Nervenkr. 4 K. Verh. zu den th. Seelenkr.</hi> </fw><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 559.</head><lb/>
              <p>Der <hi rendition="#fr">Wehrtrieb der Thiere,</hi> wodurch &#x017F;ie bewogen<lb/>
werden, &#x017F;ich ihrer natu&#x0364;rlichen Waffen in den Gefahren zu<lb/>
bedienen, welchen &#x017F;ie am mei&#x017F;ten ausge&#x017F;etzet &#x017F;ind, i&#x017F;t nichts<lb/>
anders als eine be&#x017F;ondre Art des Triebes zu willku&#x0364;hrlichen<lb/>
Bewegungen. §. 288. Da nun die Seelenwirkungen des<lb/>
letztern durch bloße Nervenwirkungen vollkommen er&#x017F;etzet<lb/>
werden ko&#x0364;nnen, §. 555 &#x2014; 557. &#x017F;o &#x017F;ind auch die Seelen-<lb/>
wirkungen des Wehrtriebes davon nicht ausgenommen.<lb/>
Eben die&#x017F;elben a&#x0364;ußern &#x017F;innlichen Eindru&#x0364;cke, welche, wenn<lb/>
&#x017F;ie ein Thier empfindet, durch die Erregung &#x017F;eines Wehr-<lb/>
triebes gewi&#x017F;&#x017F;e thieri&#x017F;che Bewegungen als &#x017F;eine Seelenwir-<lb/>
kungen veranla&#x017F;&#x017F;en, bringen auch wenn &#x017F;ie nicht empfun-<lb/>
den werden, und den Trieb unmo&#x0364;glich erregen ko&#x0364;nnen, eben<lb/>
die&#x017F;elben thieri&#x017F;chen Bewegungen hervor. Wenn man<lb/>
den Bauch eines Ohrwurms &#x017F;chmerzlich beru&#x0364;hret, &#x017F;o erhebt<lb/>
er die a&#x0364;ußer&#x017F;te Spitze de&#x017F;&#x017F;elben, thut &#x017F;eine Zangen auf und<lb/>
kneipt &#x017F;ie fe&#x017F;t wieder zu&#x017F;ammen, um, wie es &#x017F;cheint, &#x017F;ich<lb/>
zu wehren. J&#x017F;t dieß in die&#x017F;em Falle wirklich die Seelen-<lb/>
wirkung &#x017F;eines Wehrtriebes, &#x017F;o kann &#x017F;ie es unmo&#x0364;glich &#x017F;eyn,<lb/>
wenn der Bauch vom u&#x0364;brigen Ko&#x0364;rper vo&#x0364;llig abge&#x017F;chnitten<lb/>
i&#x017F;t, und dennoch machen die Zangen von eben den&#x017F;elben<lb/>
Beru&#x0364;hrungen de&#x017F;&#x017F;elben eben die&#x017F;elben thieri&#x017F;chen Bewegun-<lb/>
gen. Man glaubt, daß es eine Seelenwirkung des Wehr-<lb/>
triebes &#x017F;ey, wenn die Bienen, die man ergreift, ihren<lb/>
Stachel aus&#x017F;tecken, um zn &#x017F;techen. Un&#x017F;treitig i&#x017F;t es eine<lb/>
bloße Nervenwirkung, wenn es ein ergriffener Bienenbauch<lb/>
ebenfalls thut, den man vom u&#x0364;brigen Ko&#x0364;rper abge&#x017F;chnit-<lb/>
ten hat. Ein Pferd, dem eine Canonenkugel den Kopf<lb/>
genommen, &#x017F;chla&#x0364;gt, wenn es hinge&#x017F;tu&#x0364;rzet i&#x017F;t, eben &#x017F;o hin-<lb/>
ter &#x017F;ich aus, wie es durch &#x017F;einen Wehrtrieb zu thun pflegt,<lb/>
wenn es ein andrer Zufall nieder&#x017F;tu&#x0364;rzet. Eine abgebro-<lb/>
chene Hummer&#x017F;cheere kneipt, wenn ihr Flei&#x017F;ch gereizet wird,<lb/>
eben &#x017F;o, als ob der Wehrtrieb in &#x017F;ie wirkete; und &#x017F;o be&#x017F;ta&#x0364;-<lb/>
tigen es noch viel hundert andre Erfahrungen unwider-<lb/>
&#x017F;prechlich, daß auch die Seelenwirkungen des Wehrtriebes<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">von</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[560/0584] II Th. Nervenkr. 4 K. Verh. zu den th. Seelenkr. §. 559. Der Wehrtrieb der Thiere, wodurch ſie bewogen werden, ſich ihrer natuͤrlichen Waffen in den Gefahren zu bedienen, welchen ſie am meiſten ausgeſetzet ſind, iſt nichts anders als eine beſondre Art des Triebes zu willkuͤhrlichen Bewegungen. §. 288. Da nun die Seelenwirkungen des letztern durch bloße Nervenwirkungen vollkommen erſetzet werden koͤnnen, §. 555 — 557. ſo ſind auch die Seelen- wirkungen des Wehrtriebes davon nicht ausgenommen. Eben dieſelben aͤußern ſinnlichen Eindruͤcke, welche, wenn ſie ein Thier empfindet, durch die Erregung ſeines Wehr- triebes gewiſſe thieriſche Bewegungen als ſeine Seelenwir- kungen veranlaſſen, bringen auch wenn ſie nicht empfun- den werden, und den Trieb unmoͤglich erregen koͤnnen, eben dieſelben thieriſchen Bewegungen hervor. Wenn man den Bauch eines Ohrwurms ſchmerzlich beruͤhret, ſo erhebt er die aͤußerſte Spitze deſſelben, thut ſeine Zangen auf und kneipt ſie feſt wieder zuſammen, um, wie es ſcheint, ſich zu wehren. Jſt dieß in dieſem Falle wirklich die Seelen- wirkung ſeines Wehrtriebes, ſo kann ſie es unmoͤglich ſeyn, wenn der Bauch vom uͤbrigen Koͤrper voͤllig abgeſchnitten iſt, und dennoch machen die Zangen von eben denſelben Beruͤhrungen deſſelben eben dieſelben thieriſchen Bewegun- gen. Man glaubt, daß es eine Seelenwirkung des Wehr- triebes ſey, wenn die Bienen, die man ergreift, ihren Stachel ausſtecken, um zn ſtechen. Unſtreitig iſt es eine bloße Nervenwirkung, wenn es ein ergriffener Bienenbauch ebenfalls thut, den man vom uͤbrigen Koͤrper abgeſchnit- ten hat. Ein Pferd, dem eine Canonenkugel den Kopf genommen, ſchlaͤgt, wenn es hingeſtuͤrzet iſt, eben ſo hin- ter ſich aus, wie es durch ſeinen Wehrtrieb zu thun pflegt, wenn es ein andrer Zufall niederſtuͤrzet. Eine abgebro- chene Hummerſcheere kneipt, wenn ihr Fleiſch gereizet wird, eben ſo, als ob der Wehrtrieb in ſie wirkete; und ſo beſtaͤ- tigen es noch viel hundert andre Erfahrungen unwider- ſprechlich, daß auch die Seelenwirkungen des Wehrtriebes von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/584
Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 560. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/584>, abgerufen am 21.12.2024.