Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

der Leidenschaften.
einer sinnlichen Unlust und einer sinnlichen verworrenen
Vorhersehung zusammengesetzet. §. 103. 257. 258. Eine
Betrübniß über das Vergangene, um der zukünftigen Fol-
gen willen, ist Traurigkeit, Reue, über das Gegenwär-
tige, um der zukünftigen Folgen willen, Gram, Harm,
und über das Zukünftige, Besorgniß, Furcht, Grau-
sen, Verzweiflung.
Außer diesen gehören noch zu den
betrübten Leidenschaften, die, über den Verzug dessen, wor-
nach man verlanget, Sehnsucht, die, über eines andern
Unvollkommenheit, Mitleid, die, über erlittene oder zu
erwartende Verachtung, Scham, die, über eines andern
Vollkommenheit, Haß, und in so fern man die für sich selbst
begehret, Neid, ferner die, über eine Beleidigung, Zorn,
und in so fern man die dem Beleidiger wieder zuzufügen
begehret, Rachgier, und endlich die, über ein nahe bevor-
stehendes, unerwartetes, großes Uebel, Schreck. Baumg.
Met.
§. 507. 508. Jede von diesen Leidenschaften unter-
scheidet sich durch besondre Seelenwirkungen in der thieri-
schen Oeconomie.

§. 310.

Die Seelenwirkungen der betrübten Leidenschaften über-
haupt, und der Traurigkeit insbesondre, sind, in so fern
sie von einer sinnlichen Unlust herrühren, widernatürliche
Lebensbewegungen. §. 259. Das Blut wird in der Brust
unnatürlich zurückgehalten und angehäuft, welches das
Seufzen, die Beängstigung der Brust, die blasse Farbe
des Gesichts, die Kälte der Glieder und der minder volle
Puls beweisen. Kömmt diese Anhäufung des Bluts in
der Brust von einer Schwäche des Herzens? oder davon,
daß es bey jedem Schlage zu weit ausgedehnet wird, und
sich zu wenig wieder zusammenzieht? oder daß es unordent-
lich schlägt, und nicht immer mit jedem Schlage die glei-
chen Massen von Blut wieder ausstößt, die es empfängt?
Das letzte ist hier das wahrscheinlichste: denn in keiner wah-
ren Leidenschaft sind die Bewegungen, die ihre unmittelba-

ren
U

der Leidenſchaften.
einer ſinnlichen Unluſt und einer ſinnlichen verworrenen
Vorherſehung zuſammengeſetzet. §. 103. 257. 258. Eine
Betruͤbniß uͤber das Vergangene, um der zukuͤnftigen Fol-
gen willen, iſt Traurigkeit, Reue, uͤber das Gegenwaͤr-
tige, um der zukuͤnftigen Folgen willen, Gram, Harm,
und uͤber das Zukuͤnftige, Beſorgniß, Furcht, Grau-
ſen, Verzweiflung.
Außer dieſen gehoͤren noch zu den
betruͤbten Leidenſchaften, die, uͤber den Verzug deſſen, wor-
nach man verlanget, Sehnſucht, die, uͤber eines andern
Unvollkommenheit, Mitleid, die, uͤber erlittene oder zu
erwartende Verachtung, Scham, die, uͤber eines andern
Vollkommenheit, Haß, und in ſo fern man die fuͤr ſich ſelbſt
begehret, Neid, ferner die, uͤber eine Beleidigung, Zorn,
und in ſo fern man die dem Beleidiger wieder zuzufuͤgen
begehret, Rachgier, und endlich die, uͤber ein nahe bevor-
ſtehendes, unerwartetes, großes Uebel, Schreck. Baumg.
Met.
§. 507. 508. Jede von dieſen Leidenſchaften unter-
ſcheidet ſich durch beſondre Seelenwirkungen in der thieri-
ſchen Oeconomie.

§. 310.

Die Seelenwirkungen der betruͤbten Leidenſchaften uͤber-
haupt, und der Traurigkeit insbeſondre, ſind, in ſo fern
ſie von einer ſinnlichen Unluſt herruͤhren, widernatuͤrliche
Lebensbewegungen. §. 259. Das Blut wird in der Bruſt
unnatuͤrlich zuruͤckgehalten und angehaͤuft, welches das
Seufzen, die Beaͤngſtigung der Bruſt, die blaſſe Farbe
des Geſichts, die Kaͤlte der Glieder und der minder volle
Puls beweiſen. Koͤmmt dieſe Anhaͤufung des Bluts in
der Bruſt von einer Schwaͤche des Herzens? oder davon,
daß es bey jedem Schlage zu weit ausgedehnet wird, und
ſich zu wenig wieder zuſammenzieht? oder daß es unordent-
lich ſchlaͤgt, und nicht immer mit jedem Schlage die glei-
chen Maſſen von Blut wieder ausſtoͤßt, die es empfaͤngt?
Das letzte iſt hier das wahrſcheinlichſte: denn in keiner wah-
ren Leidenſchaft ſind die Bewegungen, die ihre unmittelba-

ren
U
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0329" n="305"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der Leiden&#x017F;chaften.</hi></fw><lb/>
einer &#x017F;innlichen Unlu&#x017F;t und einer &#x017F;innlichen verworrenen<lb/>
Vorher&#x017F;ehung zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzet. §. 103. 257. 258. Eine<lb/>
Betru&#x0364;bniß u&#x0364;ber das Vergangene, um der zuku&#x0364;nftigen Fol-<lb/>
gen willen, i&#x017F;t <hi rendition="#fr">Traurigkeit, Reue,</hi> u&#x0364;ber das Gegenwa&#x0364;r-<lb/>
tige, um der zuku&#x0364;nftigen Folgen willen, <hi rendition="#fr">Gram, Harm,</hi><lb/>
und u&#x0364;ber das Zuku&#x0364;nftige, <hi rendition="#fr">Be&#x017F;orgniß, Furcht, Grau-<lb/>
&#x017F;en, Verzweiflung.</hi> Außer die&#x017F;en geho&#x0364;ren noch zu den<lb/>
betru&#x0364;bten Leiden&#x017F;chaften, die, u&#x0364;ber den Verzug de&#x017F;&#x017F;en, wor-<lb/>
nach man verlanget, <hi rendition="#fr">Sehn&#x017F;ucht,</hi> die, u&#x0364;ber eines andern<lb/>
Unvollkommenheit, <hi rendition="#fr">Mitleid,</hi> die, u&#x0364;ber erlittene oder zu<lb/>
erwartende Verachtung, <hi rendition="#fr">Scham,</hi> die, u&#x0364;ber eines andern<lb/>
Vollkommenheit, <hi rendition="#fr">Haß,</hi> und in &#x017F;o fern man die fu&#x0364;r &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
begehret, <hi rendition="#fr">Neid,</hi> ferner die, u&#x0364;ber eine Beleidigung, <hi rendition="#fr">Zorn,</hi><lb/>
und in &#x017F;o fern man die dem Beleidiger wieder zuzufu&#x0364;gen<lb/>
begehret, <hi rendition="#fr">Rachgier,</hi> und endlich die, u&#x0364;ber ein nahe bevor-<lb/>
&#x017F;tehendes, unerwartetes, großes Uebel, <hi rendition="#fr">Schreck.</hi> <hi rendition="#aq">Baumg.<lb/>
Met.</hi> §. 507. 508. Jede von die&#x017F;en Leiden&#x017F;chaften unter-<lb/>
&#x017F;cheidet &#x017F;ich durch be&#x017F;ondre Seelenwirkungen in der thieri-<lb/>
&#x017F;chen Oeconomie.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 310.</head><lb/>
              <p>Die Seelenwirkungen der betru&#x0364;bten Leiden&#x017F;chaften u&#x0364;ber-<lb/>
haupt, und der <hi rendition="#fr">Traurigkeit</hi> insbe&#x017F;ondre, &#x017F;ind, in &#x017F;o fern<lb/>
&#x017F;ie von einer &#x017F;innlichen Unlu&#x017F;t herru&#x0364;hren, widernatu&#x0364;rliche<lb/>
Lebensbewegungen. §. 259. Das Blut wird in der Bru&#x017F;t<lb/>
unnatu&#x0364;rlich zuru&#x0364;ckgehalten und angeha&#x0364;uft, welches das<lb/>
Seufzen, die Bea&#x0364;ng&#x017F;tigung der Bru&#x017F;t, die bla&#x017F;&#x017F;e Farbe<lb/>
des Ge&#x017F;ichts, die Ka&#x0364;lte der Glieder und der minder volle<lb/>
Puls bewei&#x017F;en. Ko&#x0364;mmt die&#x017F;e Anha&#x0364;ufung des Bluts in<lb/>
der Bru&#x017F;t von einer Schwa&#x0364;che des Herzens? oder davon,<lb/>
daß es bey jedem Schlage zu weit ausgedehnet wird, und<lb/>
&#x017F;ich zu wenig wieder zu&#x017F;ammenzieht? oder daß es unordent-<lb/>
lich &#x017F;chla&#x0364;gt, und nicht immer mit jedem Schlage die glei-<lb/>
chen Ma&#x017F;&#x017F;en von Blut wieder aus&#x017F;to&#x0364;ßt, die es empfa&#x0364;ngt?<lb/>
Das letzte i&#x017F;t hier das wahr&#x017F;cheinlich&#x017F;te: denn in keiner wah-<lb/>
ren Leiden&#x017F;chaft &#x017F;ind die Bewegungen, die ihre unmittelba-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">U</fw><fw place="bottom" type="catch">ren</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[305/0329] der Leidenſchaften. einer ſinnlichen Unluſt und einer ſinnlichen verworrenen Vorherſehung zuſammengeſetzet. §. 103. 257. 258. Eine Betruͤbniß uͤber das Vergangene, um der zukuͤnftigen Fol- gen willen, iſt Traurigkeit, Reue, uͤber das Gegenwaͤr- tige, um der zukuͤnftigen Folgen willen, Gram, Harm, und uͤber das Zukuͤnftige, Beſorgniß, Furcht, Grau- ſen, Verzweiflung. Außer dieſen gehoͤren noch zu den betruͤbten Leidenſchaften, die, uͤber den Verzug deſſen, wor- nach man verlanget, Sehnſucht, die, uͤber eines andern Unvollkommenheit, Mitleid, die, uͤber erlittene oder zu erwartende Verachtung, Scham, die, uͤber eines andern Vollkommenheit, Haß, und in ſo fern man die fuͤr ſich ſelbſt begehret, Neid, ferner die, uͤber eine Beleidigung, Zorn, und in ſo fern man die dem Beleidiger wieder zuzufuͤgen begehret, Rachgier, und endlich die, uͤber ein nahe bevor- ſtehendes, unerwartetes, großes Uebel, Schreck. Baumg. Met. §. 507. 508. Jede von dieſen Leidenſchaften unter- ſcheidet ſich durch beſondre Seelenwirkungen in der thieri- ſchen Oeconomie. §. 310. Die Seelenwirkungen der betruͤbten Leidenſchaften uͤber- haupt, und der Traurigkeit insbeſondre, ſind, in ſo fern ſie von einer ſinnlichen Unluſt herruͤhren, widernatuͤrliche Lebensbewegungen. §. 259. Das Blut wird in der Bruſt unnatuͤrlich zuruͤckgehalten und angehaͤuft, welches das Seufzen, die Beaͤngſtigung der Bruſt, die blaſſe Farbe des Geſichts, die Kaͤlte der Glieder und der minder volle Puls beweiſen. Koͤmmt dieſe Anhaͤufung des Bluts in der Bruſt von einer Schwaͤche des Herzens? oder davon, daß es bey jedem Schlage zu weit ausgedehnet wird, und ſich zu wenig wieder zuſammenzieht? oder daß es unordent- lich ſchlaͤgt, und nicht immer mit jedem Schlage die glei- chen Maſſen von Blut wieder ausſtoͤßt, die es empfaͤngt? Das letzte iſt hier das wahrſcheinlichſte: denn in keiner wah- ren Leidenſchaft ſind die Bewegungen, die ihre unmittelba- ren U

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/329
Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/329>, abgerufen am 30.12.2024.