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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 7. Das Junge Deutschland.
schaft längst im Stillen fühlten; doch es währte noch lange, bis sein
Widerspruch von den Philosophen recht beachtet wurde. Auch das war
ein Zeichen des beginnenden Umschwungs, daß Herbart in Göttingen sich
in dieser Zeit erst eine Schule zu bilden begann, der strenge Denker, der
schon vor Jahren in Königsberg die erste Anregung zur mathematischen
Psychologie, zur naturwissenschaftlichen Beobachtung der Vorgänge der
subjektiven Erfahrung gegeben hatte.

Die Masse der Hegelianer hielt an dem alten Banner fest; sie wieder-
holten unablässig die fertigen Formeln des Systems und suchten durch
Uebertreibung und Umschreibung, durch mannichfache sophistische Künste
zu ersetzen, was ihnen an schöpferischer Kraft abging. Da der tiefsinnige
Satz von der Wirklichkeit des Vernünftigen entgegengesetzte Auslegungen
geradezu herausforderte, so traten jetzt die beiden Parteien, welche sich schon
bei Hegel's Lebzeiten geschieden hatten, scharf und schärfer auseinander.
Die Junghegelianer -- so nannte man die Radicalen -- und die Hegel'sche
Rechte behaupteten beiderseits mit einem Eifer, der einer größeren Sache
würdig war, daß sie allein den Geist Hegel's begriffen hätten. Dieser
gedankenlose Streit um den Namen des Meisters bewies nur zu deutlich,
daß die Schule mit ihrer Weisheit am Ende war; und auch Michelet be-
stätigte nur den Bankbruch des Systems, wenn er triumphirend ausrief:
"eine Partei bewährt sich erst dadurch als die siegende, daß sie in zwei
Parteien zerfällt." Hegel selbst hatte die Liberalen allezeit leidenschaftlich
bekämpft und diese conservative Gesinnung soeben noch durch seine schönen
Aufsätze über die englische Reformbill bethätigt. Er sah in der Juli-Revo-
lution die Buße für die Sünden des Liberalismus; er lebte in dem Wahne,
sein pantheistisches System entspreche der christlichen Dreieinigkeitslehre, und
freute sich herzlich, als Göschel und Gabler seine Philosophie den Streng-
gläubigen mundgerecht zu machen suchten; er äußerte noch kurz vor
seinem Tode seinen Abscheu über die radicale Unduldsamkeit, welche jeden
Vertheidiger von Staat und Kirche als einen Denuncianten verdächtigte,
und obwohl er einzelne Reformen verlangte, so war er doch stets darauf
bedacht, zunächst das Vernünftige des Wirklichen, die innere Nothwendig-
keit der bestehenden Ordnung aufzuweisen. Die Männer der Hegel'schen
Rechten durften sich also mit Recht für die Erben des Meisters ansehen,
obgleich dabei manche Selbsttäuschung mit unterlaufen mochte, und Michelet
war vollständig im Irrthum, wenn er diese conservativen Hegelianer als
"die Hinausgegangenen und nicht mehr Schüler sein Wollenden" in Ver-
ruf erklärte.

Das Wirkliche als vernünftig hinzunehmen, widerstrebt aber dem
ewig vorwärts drängenden menschlichen Geiste, zumal in Zeiten einer be-
rechtigten Unzufriedenheit. Darum konnten in dem nun entbrennenden
Streite die Junghegelianer auf den Beifall des Haufens zählen, wenn sie,
dem Meister das Wort im Munde verdrehend, überall in den bestehen-

IV. 7. Das Junge Deutſchland.
ſchaft längſt im Stillen fühlten; doch es währte noch lange, bis ſein
Widerſpruch von den Philoſophen recht beachtet wurde. Auch das war
ein Zeichen des beginnenden Umſchwungs, daß Herbart in Göttingen ſich
in dieſer Zeit erſt eine Schule zu bilden begann, der ſtrenge Denker, der
ſchon vor Jahren in Königsberg die erſte Anregung zur mathematiſchen
Pſychologie, zur naturwiſſenſchaftlichen Beobachtung der Vorgänge der
ſubjektiven Erfahrung gegeben hatte.

Die Maſſe der Hegelianer hielt an dem alten Banner feſt; ſie wieder-
holten unabläſſig die fertigen Formeln des Syſtems und ſuchten durch
Uebertreibung und Umſchreibung, durch mannichfache ſophiſtiſche Künſte
zu erſetzen, was ihnen an ſchöpferiſcher Kraft abging. Da der tiefſinnige
Satz von der Wirklichkeit des Vernünftigen entgegengeſetzte Auslegungen
geradezu herausforderte, ſo traten jetzt die beiden Parteien, welche ſich ſchon
bei Hegel’s Lebzeiten geſchieden hatten, ſcharf und ſchärfer auseinander.
Die Junghegelianer — ſo nannte man die Radicalen — und die Hegel’ſche
Rechte behaupteten beiderſeits mit einem Eifer, der einer größeren Sache
würdig war, daß ſie allein den Geiſt Hegel’s begriffen hätten. Dieſer
gedankenloſe Streit um den Namen des Meiſters bewies nur zu deutlich,
daß die Schule mit ihrer Weisheit am Ende war; und auch Michelet be-
ſtätigte nur den Bankbruch des Syſtems, wenn er triumphirend ausrief:
„eine Partei bewährt ſich erſt dadurch als die ſiegende, daß ſie in zwei
Parteien zerfällt.“ Hegel ſelbſt hatte die Liberalen allezeit leidenſchaftlich
bekämpft und dieſe conſervative Geſinnung ſoeben noch durch ſeine ſchönen
Aufſätze über die engliſche Reformbill bethätigt. Er ſah in der Juli-Revo-
lution die Buße für die Sünden des Liberalismus; er lebte in dem Wahne,
ſein pantheiſtiſches Syſtem entſpreche der chriſtlichen Dreieinigkeitslehre, und
freute ſich herzlich, als Göſchel und Gabler ſeine Philoſophie den Streng-
gläubigen mundgerecht zu machen ſuchten; er äußerte noch kurz vor
ſeinem Tode ſeinen Abſcheu über die radicale Unduldſamkeit, welche jeden
Vertheidiger von Staat und Kirche als einen Denuncianten verdächtigte,
und obwohl er einzelne Reformen verlangte, ſo war er doch ſtets darauf
bedacht, zunächſt das Vernünftige des Wirklichen, die innere Nothwendig-
keit der beſtehenden Ordnung aufzuweiſen. Die Männer der Hegel’ſchen
Rechten durften ſich alſo mit Recht für die Erben des Meiſters anſehen,
obgleich dabei manche Selbſttäuſchung mit unterlaufen mochte, und Michelet
war vollſtändig im Irrthum, wenn er dieſe conſervativen Hegelianer als
„die Hinausgegangenen und nicht mehr Schüler ſein Wollenden“ in Ver-
ruf erklärte.

Das Wirkliche als vernünftig hinzunehmen, widerſtrebt aber dem
ewig vorwärts drängenden menſchlichen Geiſte, zumal in Zeiten einer be-
rechtigten Unzufriedenheit. Darum konnten in dem nun entbrennenden
Streite die Junghegelianer auf den Beifall des Haufens zählen, wenn ſie,
dem Meiſter das Wort im Munde verdrehend, überall in den beſtehen-

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[484/0498] IV. 7. Das Junge Deutſchland. ſchaft längſt im Stillen fühlten; doch es währte noch lange, bis ſein Widerſpruch von den Philoſophen recht beachtet wurde. Auch das war ein Zeichen des beginnenden Umſchwungs, daß Herbart in Göttingen ſich in dieſer Zeit erſt eine Schule zu bilden begann, der ſtrenge Denker, der ſchon vor Jahren in Königsberg die erſte Anregung zur mathematiſchen Pſychologie, zur naturwiſſenſchaftlichen Beobachtung der Vorgänge der ſubjektiven Erfahrung gegeben hatte. Die Maſſe der Hegelianer hielt an dem alten Banner feſt; ſie wieder- holten unabläſſig die fertigen Formeln des Syſtems und ſuchten durch Uebertreibung und Umſchreibung, durch mannichfache ſophiſtiſche Künſte zu erſetzen, was ihnen an ſchöpferiſcher Kraft abging. Da der tiefſinnige Satz von der Wirklichkeit des Vernünftigen entgegengeſetzte Auslegungen geradezu herausforderte, ſo traten jetzt die beiden Parteien, welche ſich ſchon bei Hegel’s Lebzeiten geſchieden hatten, ſcharf und ſchärfer auseinander. Die Junghegelianer — ſo nannte man die Radicalen — und die Hegel’ſche Rechte behaupteten beiderſeits mit einem Eifer, der einer größeren Sache würdig war, daß ſie allein den Geiſt Hegel’s begriffen hätten. Dieſer gedankenloſe Streit um den Namen des Meiſters bewies nur zu deutlich, daß die Schule mit ihrer Weisheit am Ende war; und auch Michelet be- ſtätigte nur den Bankbruch des Syſtems, wenn er triumphirend ausrief: „eine Partei bewährt ſich erſt dadurch als die ſiegende, daß ſie in zwei Parteien zerfällt.“ Hegel ſelbſt hatte die Liberalen allezeit leidenſchaftlich bekämpft und dieſe conſervative Geſinnung ſoeben noch durch ſeine ſchönen Aufſätze über die engliſche Reformbill bethätigt. Er ſah in der Juli-Revo- lution die Buße für die Sünden des Liberalismus; er lebte in dem Wahne, ſein pantheiſtiſches Syſtem entſpreche der chriſtlichen Dreieinigkeitslehre, und freute ſich herzlich, als Göſchel und Gabler ſeine Philoſophie den Streng- gläubigen mundgerecht zu machen ſuchten; er äußerte noch kurz vor ſeinem Tode ſeinen Abſcheu über die radicale Unduldſamkeit, welche jeden Vertheidiger von Staat und Kirche als einen Denuncianten verdächtigte, und obwohl er einzelne Reformen verlangte, ſo war er doch ſtets darauf bedacht, zunächſt das Vernünftige des Wirklichen, die innere Nothwendig- keit der beſtehenden Ordnung aufzuweiſen. Die Männer der Hegel’ſchen Rechten durften ſich alſo mit Recht für die Erben des Meiſters anſehen, obgleich dabei manche Selbſttäuſchung mit unterlaufen mochte, und Michelet war vollſtändig im Irrthum, wenn er dieſe conſervativen Hegelianer als „die Hinausgegangenen und nicht mehr Schüler ſein Wollenden“ in Ver- ruf erklärte. Das Wirkliche als vernünftig hinzunehmen, widerſtrebt aber dem ewig vorwärts drängenden menſchlichen Geiſte, zumal in Zeiten einer be- rechtigten Unzufriedenheit. Darum konnten in dem nun entbrennenden Streite die Junghegelianer auf den Beifall des Haufens zählen, wenn ſie, dem Meiſter das Wort im Munde verdrehend, überall in den beſtehen-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/498>, abgerufen am 26.04.2024.