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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 7. Das Junge Deutschland.
Lyrik ganz dem Auslande zugewendet, erst die Spanier und die Griechen,
dann die Franzosen und die Polen verherrlicht; Anastasius Grün führte
sie wieder in die Heimath zurück. Mit ihm begann die Fluth der patrio-
tischen Zeitgedichte; sie schwoll stärker an, als gegen das Ende der dreißi-
ger Jahre für die Göttinger Sieben und das Hermannsdenkmal auf dem
Teutoburger Walde gesammelt wurde, und überschwemmte im folgenden
Jahrzehnt den ganzen Büchermarkt. Von tiefen politischen Ideen besaß
der Wiener Poet nichts; er schwärmte nur treuherzig für die Freiheit des
Wortes und der Gedanken, er neigte sich in Ehrfurcht nicht blos vor dem
Abgott aller liberalen Oesterreicher, Joseph II., sondern sogar vor Kaiser
Franz, und richtete seinen Zorn ausschließlich gegen Metternich. An dessen
Thüre sah er einen "dürftigen Clienten" stehn:

Oestreichs Volk ist's, ehrlich, offen, wohlerzogen auch und fein,
Sieh, es fleht ganz artig: Dürft' ich wohl so frei sein frei zu sein?

Aber gerade diese unbestimmte Begeisterung für die Freiheit entsprach den
Gesinnungen der Zeit, und da Metternich für den Urheber alles deut-
schen Elends galt, so bemerkte man auch kaum, daß der Wiener nur sein
Oesterreich und die Stadt der Lerchen und des Doppeladlers im Auge
hatte, an Deutschland nur ganz nebenbei dachte. Die Süddeutschen vor-
nehmlich hießen ihn als Kampf- und Sangesgenossen willkommen; denn
er stellte seine Lieder mit Worten treuer Liebe unter Uhland's Schutz,
seine frischen bilderreichen Verse verriethen überall den Einfluß der schwä-
bischen Schule, und wie viel traulicher als der Hohn des Jungen Deutsch-
lands klang den Oberländern diese Sprache des Herzens. --

Den prosaischen Lebensformen der modernen Welt, den Interessen
und Gedanken der verwandelten Gesellschaft vermochte die lyrische Dichtung
längst nicht mehr zu genügen. Was die neue Zeit an poetischem Gehalte
besaß, konnte nur der Romandichter erschöpfend aussprechen, wenn er
in ungebundener Rede den Kämpfen und Widersprüchen des wirklichen
Lebens nachging. Mochten die Aesthetiker der Hegel'schen Schule immer-
hin versichern, daß die Ideale der Gegenwart im Drama allein die voll-
endete künstlerische Gestaltung empfangen müßten: die Erfahrung jedes
Tages strafte sie Lügen. Die ästhetische Empfänglichkeit eines Volkes läßt
sich durch die Machtsprüche der Theorie eben so wenig meistern wie die
Gestaltungskraft der Künstler. Der Roman wurde in Deutschland für
lange Jahre die zeitgemäße Form der Dichtung wie ein Jahrhundert zu-
vor in England.

Das zeigte sich, als Karl Immermann nach langen Irrfahrten end-
lich den rechten Boden für sein Schaffen fand. Von einem strengen
Vater noch ganz im Geiste des alten fridericianischen Staates erzogen,
war der stolze tapfere Niedersachse von früh auf seines eigenen Weges
gegangen. Gleich seine erste Schrift war eine That des Charakters.
Da er als Hallenser Student einen mißhandelten Commilitonen gegen

IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Lyrik ganz dem Auslande zugewendet, erſt die Spanier und die Griechen,
dann die Franzoſen und die Polen verherrlicht; Anaſtaſius Grün führte
ſie wieder in die Heimath zurück. Mit ihm begann die Fluth der patrio-
tiſchen Zeitgedichte; ſie ſchwoll ſtärker an, als gegen das Ende der dreißi-
ger Jahre für die Göttinger Sieben und das Hermannsdenkmal auf dem
Teutoburger Walde geſammelt wurde, und überſchwemmte im folgenden
Jahrzehnt den ganzen Büchermarkt. Von tiefen politiſchen Ideen beſaß
der Wiener Poet nichts; er ſchwärmte nur treuherzig für die Freiheit des
Wortes und der Gedanken, er neigte ſich in Ehrfurcht nicht blos vor dem
Abgott aller liberalen Oeſterreicher, Joſeph II., ſondern ſogar vor Kaiſer
Franz, und richtete ſeinen Zorn ausſchließlich gegen Metternich. An deſſen
Thüre ſah er einen „dürftigen Clienten“ ſtehn:

Oeſtreichs Volk iſt’s, ehrlich, offen, wohlerzogen auch und fein,
Sieh, es fleht ganz artig: Dürft’ ich wohl ſo frei ſein frei zu ſein?

Aber gerade dieſe unbeſtimmte Begeiſterung für die Freiheit entſprach den
Geſinnungen der Zeit, und da Metternich für den Urheber alles deut-
ſchen Elends galt, ſo bemerkte man auch kaum, daß der Wiener nur ſein
Oeſterreich und die Stadt der Lerchen und des Doppeladlers im Auge
hatte, an Deutſchland nur ganz nebenbei dachte. Die Süddeutſchen vor-
nehmlich hießen ihn als Kampf- und Sangesgenoſſen willkommen; denn
er ſtellte ſeine Lieder mit Worten treuer Liebe unter Uhland’s Schutz,
ſeine friſchen bilderreichen Verſe verriethen überall den Einfluß der ſchwä-
biſchen Schule, und wie viel traulicher als der Hohn des Jungen Deutſch-
lands klang den Oberländern dieſe Sprache des Herzens. —

Den proſaiſchen Lebensformen der modernen Welt, den Intereſſen
und Gedanken der verwandelten Geſellſchaft vermochte die lyriſche Dichtung
längſt nicht mehr zu genügen. Was die neue Zeit an poetiſchem Gehalte
beſaß, konnte nur der Romandichter erſchöpfend ausſprechen, wenn er
in ungebundener Rede den Kämpfen und Widerſprüchen des wirklichen
Lebens nachging. Mochten die Aeſthetiker der Hegel’ſchen Schule immer-
hin verſichern, daß die Ideale der Gegenwart im Drama allein die voll-
endete künſtleriſche Geſtaltung empfangen müßten: die Erfahrung jedes
Tages ſtrafte ſie Lügen. Die äſthetiſche Empfänglichkeit eines Volkes läßt
ſich durch die Machtſprüche der Theorie eben ſo wenig meiſtern wie die
Geſtaltungskraft der Künſtler. Der Roman wurde in Deutſchland für
lange Jahre die zeitgemäße Form der Dichtung wie ein Jahrhundert zu-
vor in England.

Das zeigte ſich, als Karl Immermann nach langen Irrfahrten end-
lich den rechten Boden für ſein Schaffen fand. Von einem ſtrengen
Vater noch ganz im Geiſte des alten fridericianiſchen Staates erzogen,
war der ſtolze tapfere Niederſachſe von früh auf ſeines eigenen Weges
gegangen. Gleich ſeine erſte Schrift war eine That des Charakters.
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[446/0460] IV. 7. Das Junge Deutſchland. Lyrik ganz dem Auslande zugewendet, erſt die Spanier und die Griechen, dann die Franzoſen und die Polen verherrlicht; Anaſtaſius Grün führte ſie wieder in die Heimath zurück. Mit ihm begann die Fluth der patrio- tiſchen Zeitgedichte; ſie ſchwoll ſtärker an, als gegen das Ende der dreißi- ger Jahre für die Göttinger Sieben und das Hermannsdenkmal auf dem Teutoburger Walde geſammelt wurde, und überſchwemmte im folgenden Jahrzehnt den ganzen Büchermarkt. Von tiefen politiſchen Ideen beſaß der Wiener Poet nichts; er ſchwärmte nur treuherzig für die Freiheit des Wortes und der Gedanken, er neigte ſich in Ehrfurcht nicht blos vor dem Abgott aller liberalen Oeſterreicher, Joſeph II., ſondern ſogar vor Kaiſer Franz, und richtete ſeinen Zorn ausſchließlich gegen Metternich. An deſſen Thüre ſah er einen „dürftigen Clienten“ ſtehn: Oeſtreichs Volk iſt’s, ehrlich, offen, wohlerzogen auch und fein, Sieh, es fleht ganz artig: Dürft’ ich wohl ſo frei ſein frei zu ſein? Aber gerade dieſe unbeſtimmte Begeiſterung für die Freiheit entſprach den Geſinnungen der Zeit, und da Metternich für den Urheber alles deut- ſchen Elends galt, ſo bemerkte man auch kaum, daß der Wiener nur ſein Oeſterreich und die Stadt der Lerchen und des Doppeladlers im Auge hatte, an Deutſchland nur ganz nebenbei dachte. Die Süddeutſchen vor- nehmlich hießen ihn als Kampf- und Sangesgenoſſen willkommen; denn er ſtellte ſeine Lieder mit Worten treuer Liebe unter Uhland’s Schutz, ſeine friſchen bilderreichen Verſe verriethen überall den Einfluß der ſchwä- biſchen Schule, und wie viel traulicher als der Hohn des Jungen Deutſch- lands klang den Oberländern dieſe Sprache des Herzens. — Den proſaiſchen Lebensformen der modernen Welt, den Intereſſen und Gedanken der verwandelten Geſellſchaft vermochte die lyriſche Dichtung längſt nicht mehr zu genügen. Was die neue Zeit an poetiſchem Gehalte beſaß, konnte nur der Romandichter erſchöpfend ausſprechen, wenn er in ungebundener Rede den Kämpfen und Widerſprüchen des wirklichen Lebens nachging. Mochten die Aeſthetiker der Hegel’ſchen Schule immer- hin verſichern, daß die Ideale der Gegenwart im Drama allein die voll- endete künſtleriſche Geſtaltung empfangen müßten: die Erfahrung jedes Tages ſtrafte ſie Lügen. Die äſthetiſche Empfänglichkeit eines Volkes läßt ſich durch die Machtſprüche der Theorie eben ſo wenig meiſtern wie die Geſtaltungskraft der Künſtler. Der Roman wurde in Deutſchland für lange Jahre die zeitgemäße Form der Dichtung wie ein Jahrhundert zu- vor in England. Das zeigte ſich, als Karl Immermann nach langen Irrfahrten end- lich den rechten Boden für ſein Schaffen fand. Von einem ſtrengen Vater noch ganz im Geiſte des alten fridericianiſchen Staates erzogen, war der ſtolze tapfere Niederſachſe von früh auf ſeines eigenen Weges gegangen. Gleich ſeine erſte Schrift war eine That des Charakters. Da er als Hallenſer Student einen mißhandelten Commilitonen gegen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/460>, abgerufen am 26.04.2024.