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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Stockmar. Diebitsch's Tod.
unerwartete Erfolge und den begeisterten Beifall Europas gesteigert wurde.
Die Ungunst des Wetters erschwerte jede Bewegung in dem unwegsamen
Lande; und kaum minder belästigte den Feldherrn die pedantische Klein-
meisterei des Selbstherrschers, der ihn aus seinem Cabinet heraus bald
mit herrischen Befehlen, bald mit freundschaftlichen Vorwürfen über-
schüttete, ihm die Schonung der glänzenden Garderegimenter, die richtige
Verwendung seiner neuerfundenen Dragoner, einer wenig brauchbaren
"Infanterie zu Pferd", anempfahl.*) Im Mai brach Skrzynecki wieder
aus Praga hervor, um sich über den Bug nordwärts gegen die russischen
Garden zu wenden. Diebitsch eilte ihm nach und schlug ihn unter
schweren Verlusten bei Ostrolenka (26. Mai). Doch abermals wagte der
Sieger nicht seinen Erfolg auszubeuten; abermals gestattete er dem zer-
rütteten polnischen Heere hinter den schützenden Wällen von Praga zu
verschwinden und sich dort von Neuem zu verstärken. Da riß dem Czaren
die Geduld, er beschloß den unglücklichen Heerführer abzurufen.

Der schleppende Gang des Feldzugs hatte das Ansehen der russischen
Waffen überall in der Welt erschüttert, und da fast alle höheren Be-
fehlshaber in diesem erfolglosen Kriege gleich dem Feldherrn selber Deutsche
waren, so brach der alte Haß der Moskowiter gegen die Deutschen wieder
übermächtig aus. Die Nation forderte stürmisch die Züchtigung der ver-
achteten Polen, aber nur ein Russe durfte diesen nationalen Krieg führen.**)
Die polnische Revolution ward ein Wendepunkt der russischen Politik.
Die Begünstigung des alten Moskowiterthums, die sich schon in Nikolaus'
ersten Jahren zuweilen gezeigt hatte, blieb fortan der leitende Grundsatz
seiner Regierung. In schneidendem Gegensatze zu seinem Bruder Alexander,
dem Gönner der Deutschen und der Polen, wies er alles westländische
Wesen feindselig ab. So stellte sich die alte Regel wieder her, die sich
aus der nur halb gelungenen Verschmelzung abendländischer und morgen-
ländischer Gesittung nothwendig ergab und darum in der Geschichte Ruß-
lands mit der Stätigkeit eines Naturgesetzes wiederkehrte: die Regel, daß
jeder Czar gegenüber der europäischen Cultur genau das Gegentheil dessen
that, was sein Vorgänger für geboten hielt.

Noch bevor ihn die Nachricht seiner Abberufung ereilte, starb Die-
bitsch plötzlich an der Cholera; die Lorbeeren seiner Türkenkämpfe waren
verwelkt. Mittlerweile bereitete General Toll, der kühnste und einsich-
tigste Kopf des Hauptquartiers, schon die entscheidende Bewegung vor:
das russische Heer sollte in einem weiten Flankenmarsche nach Nordwesten,
bis dicht an die preußische Grenze zurückgehen, dort den so oft geplanten
Uebergang über die Weichsel vollführen, um dann auf dem linken Ufer

*) Nikolaus an Diebitsch, 4. 21. Febr., 4. 10. März a. St. 1831, abgedruckt nebst
anderen Briefen des Czaren an den Feldmarschall in der Russka Starina, Jahrgang
1884 u. 85.
**) Schöler's Bericht, 3. Juni 1831.

Stockmar. Diebitſch’s Tod.
unerwartete Erfolge und den begeiſterten Beifall Europas geſteigert wurde.
Die Ungunſt des Wetters erſchwerte jede Bewegung in dem unwegſamen
Lande; und kaum minder beläſtigte den Feldherrn die pedantiſche Klein-
meiſterei des Selbſtherrſchers, der ihn aus ſeinem Cabinet heraus bald
mit herriſchen Befehlen, bald mit freundſchaftlichen Vorwürfen über-
ſchüttete, ihm die Schonung der glänzenden Garderegimenter, die richtige
Verwendung ſeiner neuerfundenen Dragoner, einer wenig brauchbaren
„Infanterie zu Pferd“, anempfahl.*) Im Mai brach Skrzynecki wieder
aus Praga hervor, um ſich über den Bug nordwärts gegen die ruſſiſchen
Garden zu wenden. Diebitſch eilte ihm nach und ſchlug ihn unter
ſchweren Verluſten bei Oſtrolenka (26. Mai). Doch abermals wagte der
Sieger nicht ſeinen Erfolg auszubeuten; abermals geſtattete er dem zer-
rütteten polniſchen Heere hinter den ſchützenden Wällen von Praga zu
verſchwinden und ſich dort von Neuem zu verſtärken. Da riß dem Czaren
die Geduld, er beſchloß den unglücklichen Heerführer abzurufen.

Der ſchleppende Gang des Feldzugs hatte das Anſehen der ruſſiſchen
Waffen überall in der Welt erſchüttert, und da faſt alle höheren Be-
fehlshaber in dieſem erfolgloſen Kriege gleich dem Feldherrn ſelber Deutſche
waren, ſo brach der alte Haß der Moskowiter gegen die Deutſchen wieder
übermächtig aus. Die Nation forderte ſtürmiſch die Züchtigung der ver-
achteten Polen, aber nur ein Ruſſe durfte dieſen nationalen Krieg führen.**)
Die polniſche Revolution ward ein Wendepunkt der ruſſiſchen Politik.
Die Begünſtigung des alten Moskowiterthums, die ſich ſchon in Nikolaus’
erſten Jahren zuweilen gezeigt hatte, blieb fortan der leitende Grundſatz
ſeiner Regierung. In ſchneidendem Gegenſatze zu ſeinem Bruder Alexander,
dem Gönner der Deutſchen und der Polen, wies er alles weſtländiſche
Weſen feindſelig ab. So ſtellte ſich die alte Regel wieder her, die ſich
aus der nur halb gelungenen Verſchmelzung abendländiſcher und morgen-
ländiſcher Geſittung nothwendig ergab und darum in der Geſchichte Ruß-
lands mit der Stätigkeit eines Naturgeſetzes wiederkehrte: die Regel, daß
jeder Czar gegenüber der europäiſchen Cultur genau das Gegentheil deſſen
that, was ſein Vorgänger für geboten hielt.

Noch bevor ihn die Nachricht ſeiner Abberufung ereilte, ſtarb Die-
bitſch plötzlich an der Cholera; die Lorbeeren ſeiner Türkenkämpfe waren
verwelkt. Mittlerweile bereitete General Toll, der kühnſte und einſich-
tigſte Kopf des Hauptquartiers, ſchon die entſcheidende Bewegung vor:
das ruſſiſche Heer ſollte in einem weiten Flankenmarſche nach Nordweſten,
bis dicht an die preußiſche Grenze zurückgehen, dort den ſo oft geplanten
Uebergang über die Weichſel vollführen, um dann auf dem linken Ufer

*) Nikolaus an Diebitſch, 4. 21. Febr., 4. 10. März a. St. 1831, abgedruckt nebſt
anderen Briefen des Czaren an den Feldmarſchall in der Russka Starina, Jahrgang
1884 u. 85.
**) Schöler’s Bericht, 3. Juni 1831.
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[87/0101] Stockmar. Diebitſch’s Tod. unerwartete Erfolge und den begeiſterten Beifall Europas geſteigert wurde. Die Ungunſt des Wetters erſchwerte jede Bewegung in dem unwegſamen Lande; und kaum minder beläſtigte den Feldherrn die pedantiſche Klein- meiſterei des Selbſtherrſchers, der ihn aus ſeinem Cabinet heraus bald mit herriſchen Befehlen, bald mit freundſchaftlichen Vorwürfen über- ſchüttete, ihm die Schonung der glänzenden Garderegimenter, die richtige Verwendung ſeiner neuerfundenen Dragoner, einer wenig brauchbaren „Infanterie zu Pferd“, anempfahl. *) Im Mai brach Skrzynecki wieder aus Praga hervor, um ſich über den Bug nordwärts gegen die ruſſiſchen Garden zu wenden. Diebitſch eilte ihm nach und ſchlug ihn unter ſchweren Verluſten bei Oſtrolenka (26. Mai). Doch abermals wagte der Sieger nicht ſeinen Erfolg auszubeuten; abermals geſtattete er dem zer- rütteten polniſchen Heere hinter den ſchützenden Wällen von Praga zu verſchwinden und ſich dort von Neuem zu verſtärken. Da riß dem Czaren die Geduld, er beſchloß den unglücklichen Heerführer abzurufen. Der ſchleppende Gang des Feldzugs hatte das Anſehen der ruſſiſchen Waffen überall in der Welt erſchüttert, und da faſt alle höheren Be- fehlshaber in dieſem erfolgloſen Kriege gleich dem Feldherrn ſelber Deutſche waren, ſo brach der alte Haß der Moskowiter gegen die Deutſchen wieder übermächtig aus. Die Nation forderte ſtürmiſch die Züchtigung der ver- achteten Polen, aber nur ein Ruſſe durfte dieſen nationalen Krieg führen. **) Die polniſche Revolution ward ein Wendepunkt der ruſſiſchen Politik. Die Begünſtigung des alten Moskowiterthums, die ſich ſchon in Nikolaus’ erſten Jahren zuweilen gezeigt hatte, blieb fortan der leitende Grundſatz ſeiner Regierung. In ſchneidendem Gegenſatze zu ſeinem Bruder Alexander, dem Gönner der Deutſchen und der Polen, wies er alles weſtländiſche Weſen feindſelig ab. So ſtellte ſich die alte Regel wieder her, die ſich aus der nur halb gelungenen Verſchmelzung abendländiſcher und morgen- ländiſcher Geſittung nothwendig ergab und darum in der Geſchichte Ruß- lands mit der Stätigkeit eines Naturgeſetzes wiederkehrte: die Regel, daß jeder Czar gegenüber der europäiſchen Cultur genau das Gegentheil deſſen that, was ſein Vorgänger für geboten hielt. Noch bevor ihn die Nachricht ſeiner Abberufung ereilte, ſtarb Die- bitſch plötzlich an der Cholera; die Lorbeeren ſeiner Türkenkämpfe waren verwelkt. Mittlerweile bereitete General Toll, der kühnſte und einſich- tigſte Kopf des Hauptquartiers, ſchon die entſcheidende Bewegung vor: das ruſſiſche Heer ſollte in einem weiten Flankenmarſche nach Nordweſten, bis dicht an die preußiſche Grenze zurückgehen, dort den ſo oft geplanten Uebergang über die Weichſel vollführen, um dann auf dem linken Ufer *) Nikolaus an Diebitſch, 4. 21. Febr., 4. 10. März a. St. 1831, abgedruckt nebſt anderen Briefen des Czaren an den Feldmarſchall in der Russka Starina, Jahrgang 1884 u. 85. **) Schöler’s Bericht, 3. Juni 1831.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/101>, abgerufen am 26.04.2024.