Die einfachen Formeln der Geschichtsphilosophie werden der viel- gestaltigen Fülle des historischen Lebens niemals gerecht. Weitum in der aufgeklärten Welt meinte man den Charakter des neuen Zeitalters längst durchschaut zu haben: der entscheidende Kampf zwischen dem Königthum von Gottes Gnaden und dem constitutionellen Vernunftrecht schien an- gebrochen, und kein Thron Westeuropas noch der Zukunft sicher, wenn er sich nicht mit parlamentarischen Formen umgab. Gleichwohl überstand Preußen die Stürme der Zeit unter allen deutschen Ländern am glück- lichsten. Dieser Staat mit seinem vielgeschmähten unbeschränkten König- thum zeigte eine jedes liberale Gemüth beleidigende Kraft und Gesund- heit. Ein Felsen im brandenden Meere, stand er inmitten des Aufruhrs, der alle seine Grenzen umtobte. Während er mit seinen Waffen die Marken des Vaterlandes am Rhein und an der Prosna schirmte, rettete er den Deutschen durch die unerschütterliche Strenge seines Rechtes einen fruchtbaren Schatz altüberlieferten Ansehens, monarchischer Treue, gesetz- lichen Sinnes, nationalen Stolzes. Die alte Ordnung der Gesellschaft, die in Sachsen, Hessen, Hannover erst gebrochen werden mußte, war in Preußen vorlängst zerstört, und die neufranzösischen Schlagworte des süd- deutschen Liberalismus konnten in dem Volke des Befreiungskrieges nur langsam Eingang finden.
Von politischen Unruhen blieb Preußen so gänzlich verschont, daß die Staatsgewalt ungewöhnlicher Vorkehrungen kaum bedurfte. Ein roher Aufruhr des Aachener Pöbels im August 1830 war offenbar durch die Arbeiterbewegung im nahen Verviers veranlaßt; die Meuterer richteten ihren Groll nur gegen die arbeitsparenden Maschinen Cockerill's und wider die Häuser einiger verhaßten Fabrikanten, die bewaffnete Bürgerschaft trieb sie bald zu Paaren. Noch weniger bedeutete das wüste Geschrei, das an einigen Septemberabenden in den Straßen Berlins, selbst vor den Fenstern des Königs erklang; die Schneidergesellen, die über die Kargheit ihrer Meister, über den freien Wettbewerb der Näherinnen zürnten, führten den lärmenden Haufen an, und auch hier riefen die Arbeiter: nieder mit
12*
Dritter Abſchnitt. Preußens Mittelſtellung.
Die einfachen Formeln der Geſchichtsphiloſophie werden der viel- geſtaltigen Fülle des hiſtoriſchen Lebens niemals gerecht. Weitum in der aufgeklärten Welt meinte man den Charakter des neuen Zeitalters längſt durchſchaut zu haben: der entſcheidende Kampf zwiſchen dem Königthum von Gottes Gnaden und dem conſtitutionellen Vernunftrecht ſchien an- gebrochen, und kein Thron Weſteuropas noch der Zukunft ſicher, wenn er ſich nicht mit parlamentariſchen Formen umgab. Gleichwohl überſtand Preußen die Stürme der Zeit unter allen deutſchen Ländern am glück- lichſten. Dieſer Staat mit ſeinem vielgeſchmähten unbeſchränkten König- thum zeigte eine jedes liberale Gemüth beleidigende Kraft und Geſund- heit. Ein Felſen im brandenden Meere, ſtand er inmitten des Aufruhrs, der alle ſeine Grenzen umtobte. Während er mit ſeinen Waffen die Marken des Vaterlandes am Rhein und an der Prosna ſchirmte, rettete er den Deutſchen durch die unerſchütterliche Strenge ſeines Rechtes einen fruchtbaren Schatz altüberlieferten Anſehens, monarchiſcher Treue, geſetz- lichen Sinnes, nationalen Stolzes. Die alte Ordnung der Geſellſchaft, die in Sachſen, Heſſen, Hannover erſt gebrochen werden mußte, war in Preußen vorlängſt zerſtört, und die neufranzöſiſchen Schlagworte des ſüd- deutſchen Liberalismus konnten in dem Volke des Befreiungskrieges nur langſam Eingang finden.
Von politiſchen Unruhen blieb Preußen ſo gänzlich verſchont, daß die Staatsgewalt ungewöhnlicher Vorkehrungen kaum bedurfte. Ein roher Aufruhr des Aachener Pöbels im Auguſt 1830 war offenbar durch die Arbeiterbewegung im nahen Verviers veranlaßt; die Meuterer richteten ihren Groll nur gegen die arbeitſparenden Maſchinen Cockerill’s und wider die Häuſer einiger verhaßten Fabrikanten, die bewaffnete Bürgerſchaft trieb ſie bald zu Paaren. Noch weniger bedeutete das wüſte Geſchrei, das an einigen Septemberabenden in den Straßen Berlins, ſelbſt vor den Fenſtern des Königs erklang; die Schneidergeſellen, die über die Kargheit ihrer Meiſter, über den freien Wettbewerb der Näherinnen zürnten, führten den lärmenden Haufen an, und auch hier riefen die Arbeiter: nieder mit
12*
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0193"n="[179]"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Dritter Abſchnitt.<lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/> Preußens Mittelſtellung.</hi></head><lb/><p>Die einfachen Formeln der Geſchichtsphiloſophie werden der viel-<lb/>
geſtaltigen Fülle des hiſtoriſchen Lebens niemals gerecht. Weitum in der<lb/>
aufgeklärten Welt meinte man den Charakter des neuen Zeitalters längſt<lb/>
durchſchaut zu haben: der entſcheidende Kampf zwiſchen dem Königthum<lb/>
von Gottes Gnaden und dem conſtitutionellen Vernunftrecht ſchien an-<lb/>
gebrochen, und kein Thron Weſteuropas noch der Zukunft ſicher, wenn<lb/>
er ſich nicht mit parlamentariſchen Formen umgab. Gleichwohl überſtand<lb/>
Preußen die Stürme der Zeit unter allen deutſchen Ländern am glück-<lb/>
lichſten. Dieſer Staat mit ſeinem vielgeſchmähten unbeſchränkten König-<lb/>
thum zeigte eine jedes liberale Gemüth beleidigende Kraft und Geſund-<lb/>
heit. Ein Felſen im brandenden Meere, ſtand er inmitten des Aufruhrs,<lb/>
der alle ſeine Grenzen umtobte. Während er mit ſeinen Waffen die<lb/>
Marken des Vaterlandes am Rhein und an der Prosna ſchirmte, rettete<lb/>
er den Deutſchen durch die unerſchütterliche Strenge ſeines Rechtes einen<lb/>
fruchtbaren Schatz altüberlieferten Anſehens, monarchiſcher Treue, geſetz-<lb/>
lichen Sinnes, nationalen Stolzes. Die alte Ordnung der Geſellſchaft,<lb/>
die in Sachſen, Heſſen, Hannover erſt gebrochen werden mußte, war in<lb/>
Preußen vorlängſt zerſtört, und die neufranzöſiſchen Schlagworte des ſüd-<lb/>
deutſchen Liberalismus konnten in dem Volke des Befreiungskrieges nur<lb/>
langſam Eingang finden.</p><lb/><p>Von politiſchen Unruhen blieb Preußen ſo gänzlich verſchont, daß<lb/>
die Staatsgewalt ungewöhnlicher Vorkehrungen kaum bedurfte. Ein roher<lb/>
Aufruhr des Aachener Pöbels im Auguſt 1830 war offenbar durch die<lb/>
Arbeiterbewegung im nahen Verviers veranlaßt; die Meuterer richteten<lb/>
ihren Groll nur gegen die arbeitſparenden Maſchinen Cockerill’s und wider<lb/>
die Häuſer einiger verhaßten Fabrikanten, die bewaffnete Bürgerſchaft trieb<lb/>ſie bald zu Paaren. Noch weniger bedeutete das wüſte Geſchrei, das an<lb/>
einigen Septemberabenden in den Straßen Berlins, ſelbſt vor den Fenſtern<lb/>
des Königs erklang; die Schneidergeſellen, die über die Kargheit ihrer<lb/>
Meiſter, über den freien Wettbewerb der Näherinnen zürnten, führten<lb/>
den lärmenden Haufen an, und auch hier riefen die Arbeiter: nieder mit<lb/><fwplace="bottom"type="sig">12*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[179]/0193]
Dritter Abſchnitt.
Preußens Mittelſtellung.
Die einfachen Formeln der Geſchichtsphiloſophie werden der viel-
geſtaltigen Fülle des hiſtoriſchen Lebens niemals gerecht. Weitum in der
aufgeklärten Welt meinte man den Charakter des neuen Zeitalters längſt
durchſchaut zu haben: der entſcheidende Kampf zwiſchen dem Königthum
von Gottes Gnaden und dem conſtitutionellen Vernunftrecht ſchien an-
gebrochen, und kein Thron Weſteuropas noch der Zukunft ſicher, wenn
er ſich nicht mit parlamentariſchen Formen umgab. Gleichwohl überſtand
Preußen die Stürme der Zeit unter allen deutſchen Ländern am glück-
lichſten. Dieſer Staat mit ſeinem vielgeſchmähten unbeſchränkten König-
thum zeigte eine jedes liberale Gemüth beleidigende Kraft und Geſund-
heit. Ein Felſen im brandenden Meere, ſtand er inmitten des Aufruhrs,
der alle ſeine Grenzen umtobte. Während er mit ſeinen Waffen die
Marken des Vaterlandes am Rhein und an der Prosna ſchirmte, rettete
er den Deutſchen durch die unerſchütterliche Strenge ſeines Rechtes einen
fruchtbaren Schatz altüberlieferten Anſehens, monarchiſcher Treue, geſetz-
lichen Sinnes, nationalen Stolzes. Die alte Ordnung der Geſellſchaft,
die in Sachſen, Heſſen, Hannover erſt gebrochen werden mußte, war in
Preußen vorlängſt zerſtört, und die neufranzöſiſchen Schlagworte des ſüd-
deutſchen Liberalismus konnten in dem Volke des Befreiungskrieges nur
langſam Eingang finden.
Von politiſchen Unruhen blieb Preußen ſo gänzlich verſchont, daß
die Staatsgewalt ungewöhnlicher Vorkehrungen kaum bedurfte. Ein roher
Aufruhr des Aachener Pöbels im Auguſt 1830 war offenbar durch die
Arbeiterbewegung im nahen Verviers veranlaßt; die Meuterer richteten
ihren Groll nur gegen die arbeitſparenden Maſchinen Cockerill’s und wider
die Häuſer einiger verhaßten Fabrikanten, die bewaffnete Bürgerſchaft trieb
ſie bald zu Paaren. Noch weniger bedeutete das wüſte Geſchrei, das an
einigen Septemberabenden in den Straßen Berlins, ſelbſt vor den Fenſtern
des Königs erklang; die Schneidergeſellen, die über die Kargheit ihrer
Meiſter, über den freien Wettbewerb der Näherinnen zürnten, führten
den lärmenden Haufen an, und auch hier riefen die Arbeiter: nieder mit
12*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. [179]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/193>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.