Die mühselige Arbeit der Wiederherstellung, welche in Preußen alle Kräfte der Staatsmänner auf Jahre hinaus in Anspruch nahm, blieb den süddeutschen Mittelstaaten fast ganz erspart. Diese Kronen hatten sich in allen Kriegen des letzten Jahrzehnts immer rechtzeitig auf die Seite des Siegers geschlagen und darum bei der großen Abrechnung ihren Besitzstand mit geringfügigen Aenderungen behauptet. Ihre Länder waren durch die Nöthe der Feldzüge weit weniger heimgesucht als der Norden, und nichts hinderte hier sogleich an das Verfassungswerk heranzutreten. Mit dem Sturze des Protectors brach auch die harte Dictatur, welche zehn Jahre lang diese jungen Staatsgebilde gewaltsam aufrecht erhalten hatte, unrettbar zusammen. Die Höfe selber fühlten, daß die künstliche Einheit ihrer Staaten jetzt neuer Stützen bedurfte. Sie hofften, durch die Gewährung einiger unschädlichen landständischen Rechte ihre grollenden Unterthanen mit dem Heimathstaate zu versöhnen und den Sinn des Volks dem furchtbaren Gedanken der deutschen Einheit zu entfremden; sie dachten zugleich durch schleunige Erfüllung des Art. 13 der Bundesakte ihre Souveränität gegen jeden Eingriff des Bundestags zu sichern.
Also geschah es, daß die Kernlande des Rheinbunds um ein Men- schenalter früher als Preußen die schweren ersten Lehrjahre des constitu- tionellen Lebens durchmaßen; und wie dürftig auch das politische Er- gebniß dieser Lehrzeit blieb, so hat sie doch die schlummernden Kräfte des Südens geweckt und der Welt nach langer Zeit zum ersten male wieder gezeigt, welchen Schatz Deutschland an der alten Cultur, an der schlicht bürgerlichen Bildung und dem warmherzigen Gemeinsinn seines Ober- landes besaß. Diese oberdeutschen Stämme, die an den politischen Kämpfen des achtzehnten Jahrhunderts fast nur leidend theilgenommen hatten, traten mit einem male in den Vordergrund der deutschen Geschichte, und wer die deutschen Dinge nur nach den Zeitungen oder den Schlagwörtern der Parteien beurtheilte, mochte leicht zu dem Irrthum gelangen, als ob die Führung der Nation von dem Staate Friedrichs nunmehr auf die Baiern, Schwaben und Franken übergegangen sei.
Die mühſelige Arbeit der Wiederherſtellung, welche in Preußen alle Kräfte der Staatsmänner auf Jahre hinaus in Anſpruch nahm, blieb den ſüddeutſchen Mittelſtaaten faſt ganz erſpart. Dieſe Kronen hatten ſich in allen Kriegen des letzten Jahrzehnts immer rechtzeitig auf die Seite des Siegers geſchlagen und darum bei der großen Abrechnung ihren Beſitzſtand mit geringfügigen Aenderungen behauptet. Ihre Länder waren durch die Nöthe der Feldzüge weit weniger heimgeſucht als der Norden, und nichts hinderte hier ſogleich an das Verfaſſungswerk heranzutreten. Mit dem Sturze des Protectors brach auch die harte Dictatur, welche zehn Jahre lang dieſe jungen Staatsgebilde gewaltſam aufrecht erhalten hatte, unrettbar zuſammen. Die Höfe ſelber fühlten, daß die künſtliche Einheit ihrer Staaten jetzt neuer Stützen bedurfte. Sie hofften, durch die Gewährung einiger unſchädlichen landſtändiſchen Rechte ihre grollenden Unterthanen mit dem Heimathſtaate zu verſöhnen und den Sinn des Volks dem furchtbaren Gedanken der deutſchen Einheit zu entfremden; ſie dachten zugleich durch ſchleunige Erfüllung des Art. 13 der Bundesakte ihre Souveränität gegen jeden Eingriff des Bundestags zu ſichern.
Alſo geſchah es, daß die Kernlande des Rheinbunds um ein Men- ſchenalter früher als Preußen die ſchweren erſten Lehrjahre des conſtitu- tionellen Lebens durchmaßen; und wie dürftig auch das politiſche Er- gebniß dieſer Lehrzeit blieb, ſo hat ſie doch die ſchlummernden Kräfte des Südens geweckt und der Welt nach langer Zeit zum erſten male wieder gezeigt, welchen Schatz Deutſchland an der alten Cultur, an der ſchlicht bürgerlichen Bildung und dem warmherzigen Gemeinſinn ſeines Ober- landes beſaß. Dieſe oberdeutſchen Stämme, die an den politiſchen Kämpfen des achtzehnten Jahrhunderts faſt nur leidend theilgenommen hatten, traten mit einem male in den Vordergrund der deutſchen Geſchichte, und wer die deutſchen Dinge nur nach den Zeitungen oder den Schlagwörtern der Parteien beurtheilte, mochte leicht zu dem Irrthum gelangen, als ob die Führung der Nation von dem Staate Friedrichs nunmehr auf die Baiern, Schwaben und Franken übergegangen ſei.
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[[295]/0309]
Sechſter Abſchnitt.
Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Die mühſelige Arbeit der Wiederherſtellung, welche in Preußen alle
Kräfte der Staatsmänner auf Jahre hinaus in Anſpruch nahm, blieb
den ſüddeutſchen Mittelſtaaten faſt ganz erſpart. Dieſe Kronen hatten
ſich in allen Kriegen des letzten Jahrzehnts immer rechtzeitig auf die
Seite des Siegers geſchlagen und darum bei der großen Abrechnung ihren
Beſitzſtand mit geringfügigen Aenderungen behauptet. Ihre Länder waren
durch die Nöthe der Feldzüge weit weniger heimgeſucht als der Norden,
und nichts hinderte hier ſogleich an das Verfaſſungswerk heranzutreten.
Mit dem Sturze des Protectors brach auch die harte Dictatur, welche
zehn Jahre lang dieſe jungen Staatsgebilde gewaltſam aufrecht erhalten
hatte, unrettbar zuſammen. Die Höfe ſelber fühlten, daß die künſtliche
Einheit ihrer Staaten jetzt neuer Stützen bedurfte. Sie hofften, durch
die Gewährung einiger unſchädlichen landſtändiſchen Rechte ihre grollenden
Unterthanen mit dem Heimathſtaate zu verſöhnen und den Sinn des
Volks dem furchtbaren Gedanken der deutſchen Einheit zu entfremden; ſie
dachten zugleich durch ſchleunige Erfüllung des Art. 13 der Bundesakte
ihre Souveränität gegen jeden Eingriff des Bundestags zu ſichern.
Alſo geſchah es, daß die Kernlande des Rheinbunds um ein Men-
ſchenalter früher als Preußen die ſchweren erſten Lehrjahre des conſtitu-
tionellen Lebens durchmaßen; und wie dürftig auch das politiſche Er-
gebniß dieſer Lehrzeit blieb, ſo hat ſie doch die ſchlummernden Kräfte des
Südens geweckt und der Welt nach langer Zeit zum erſten male wieder
gezeigt, welchen Schatz Deutſchland an der alten Cultur, an der ſchlicht
bürgerlichen Bildung und dem warmherzigen Gemeinſinn ſeines Ober-
landes beſaß. Dieſe oberdeutſchen Stämme, die an den politiſchen Kämpfen
des achtzehnten Jahrhunderts faſt nur leidend theilgenommen hatten,
traten mit einem male in den Vordergrund der deutſchen Geſchichte, und
wer die deutſchen Dinge nur nach den Zeitungen oder den Schlagwörtern
der Parteien beurtheilte, mochte leicht zu dem Irrthum gelangen, als ob
die Führung der Nation von dem Staate Friedrichs nunmehr auf die
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. [295]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/309>, abgerufen am 19.11.2024.
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