Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

Dasein als natürliche Ganze erscheinen und welche als
Ganze Bewegung und Wirkungen haben in Bezug auf ihre
Theile: die organischen Körper. Zu diesen gehören wir
am Erkennen uns versuchende Menschen selber, von denen
jeder ausser der vermittelten Kenntniss aller möglichen
Körper eine unmittelbare seines eigenen hat. Durch un-
vermeidliche Schlüsse erfahren wir, dass mit jedem leben-
digen Körper ein psychisches Leben verbunden ist, wodurch
er auf dieselbe Weise an und für sich vorhanden ist, wie
wir uns selber wissen. Aber die objective Betrachtung lehrt
nicht minder auf deutliche Weise: dass hier jedesmal ein
Ganzes gegeben ist, welches nicht von den Theilen zusammen-
gesetzt wird, sondern sie als von sich abhängige und durch
sich bedingte hat; dass also es selber, als Ganzes, mithin
als Form, wirklich und substantiell ist. Menschliche Kunst
vermag nur unorganische Dinge aus unorganischen Stoffen
hervorzubringen, sie theilend und wiederum verbindend.
Zur Einheit gemacht werden auf diese Weise auch die Dinge
durch wissenschaftliche Operationen und sind es in Begriffen.
Naive Anschauung und künstlerische Phantasie, volklicher
Glaube und begeisterte Dichtung gestalten die Erscheinungen
zu lebendigen; das Künstlich-Thätige, nämlich Fingiren, hat
Wissenschaft damit gemein. Aber sie macht auch das Leben-
dige tot, um seine Verhältnisse und Zusammenhänge zu
erfassen; sie macht alle Zustände und Kräfte zu Bewegungen,
stellt alle Bewegungen dar als Mengen geleisteter Arbeit
und das ist ausgegebener Arbeitskraft oder Energie; um alle
Vorgänge als gleichartig zu begreifen und als auf gleiche
Weise in einander verwandelbar an einander zu messen.
Dies ist so wahr, als die angenommenen Einheiten wahr
sind, und als in der That das Feld der Möglichkeit als
des Denkbaren grenzenlos ist; der Zweck des Begreifens
wird dadurch erfüllt und andere Zwecke, welchen dieser
dienstbar wird. Aber die Tendenzen und Nothwendigkeiten
des organischen Werdens und Vergehens können nicht durch
mechanische Mittel verstanden werden. Hier ist der Begriff
selber eine Realität, lebendig, sich verändernd und sich ent-
wickelnd, als Idee des individuellen Wesens. Wenn hier
Wissenschaft hineingreift, so verwandelt sie ihre eigene

Dasein als natürliche Ganze erscheinen und welche als
Ganze Bewegung und Wirkungen haben in Bezug auf ihre
Theile: die organischen Körper. Zu diesen gehören wir
am Erkennen uns versuchende Menschen selber, von denen
jeder ausser der vermittelten Kenntniss aller möglichen
Körper eine unmittelbare seines eigenen hat. Durch un-
vermeidliche Schlüsse erfahren wir, dass mit jedem leben-
digen Körper ein psychisches Leben verbunden ist, wodurch
er auf dieselbe Weise an und für sich vorhanden ist, wie
wir uns selber wissen. Aber die objective Betrachtung lehrt
nicht minder auf deutliche Weise: dass hier jedesmal ein
Ganzes gegeben ist, welches nicht von den Theilen zusammen-
gesetzt wird, sondern sie als von sich abhängige und durch
sich bedingte hat; dass also es selber, als Ganzes, mithin
als Form, wirklich und substantiell ist. Menschliche Kunst
vermag nur unorganische Dinge aus unorganischen Stoffen
hervorzubringen, sie theilend und wiederum verbindend.
Zur Einheit gemacht werden auf diese Weise auch die Dinge
durch wissenschaftliche Operationen und sind es in Begriffen.
Naive Anschauung und künstlerische Phantasie, volklicher
Glaube und begeisterte Dichtung gestalten die Erscheinungen
zu lebendigen; das Künstlich-Thätige, nämlich Fingiren, hat
Wissenschaft damit gemein. Aber sie macht auch das Leben-
dige tot, um seine Verhältnisse und Zusammenhänge zu
erfassen; sie macht alle Zustände und Kräfte zu Bewegungen,
stellt alle Bewegungen dar als Mengen geleisteter Arbeit
und das ist ausgegebener Arbeitskraft oder Energie; um alle
Vorgänge als gleichartig zu begreifen und als auf gleiche
Weise in einander verwandelbar an einander zu messen.
Dies ist so wahr, als die angenommenen Einheiten wahr
sind, und als in der That das Feld der Möglichkeit als
des Denkbaren grenzenlos ist; der Zweck des Begreifens
wird dadurch erfüllt und andere Zwecke, welchen dieser
dienstbar wird. Aber die Tendenzen und Nothwendigkeiten
des organischen Werdens und Vergehens können nicht durch
mechanische Mittel verstanden werden. Hier ist der Begriff
selber eine Realität, lebendig, sich verändernd und sich ent-
wickelnd, als Idee des individuellen Wesens. Wenn hier
Wissenschaft hineingreift, so verwandelt sie ihre eigene

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0043" n="7"/>
Dasein als natürliche Ganze erscheinen und welche als<lb/>
Ganze Bewegung und Wirkungen haben in Bezug auf ihre<lb/>
Theile: die organischen Körper. Zu diesen gehören wir<lb/>
am Erkennen uns versuchende Menschen selber, von denen<lb/>
jeder ausser der vermittelten Kenntniss aller möglichen<lb/>
Körper eine unmittelbare seines eigenen hat. Durch un-<lb/>
vermeidliche Schlüsse erfahren wir, dass mit <hi rendition="#g">jedem</hi> leben-<lb/>
digen Körper ein psychisches Leben verbunden ist, wodurch<lb/>
er auf dieselbe Weise an und für sich vorhanden ist, wie<lb/>
wir uns selber wissen. Aber die objective Betrachtung lehrt<lb/>
nicht minder auf deutliche Weise: dass hier jedesmal ein<lb/>
Ganzes gegeben ist, welches nicht von den Theilen zusammen-<lb/>
gesetzt wird, sondern sie als von sich abhängige und durch<lb/>
sich bedingte hat; dass also es selber, als Ganzes, mithin<lb/>
als Form, wirklich und substantiell ist. Menschliche Kunst<lb/>
vermag nur unorganische Dinge aus unorganischen Stoffen<lb/>
hervorzubringen, sie theilend und wiederum verbindend.<lb/>
Zur Einheit gemacht werden auf diese Weise auch die Dinge<lb/>
durch wissenschaftliche Operationen und sind es in Begriffen.<lb/>
Naive Anschauung und künstlerische Phantasie, volklicher<lb/>
Glaube und begeisterte Dichtung gestalten die Erscheinungen<lb/>
zu lebendigen; das Künstlich-Thätige, nämlich Fingiren, hat<lb/>
Wissenschaft damit gemein. Aber sie macht auch das Leben-<lb/>
dige tot, um seine Verhältnisse und Zusammenhänge zu<lb/>
erfassen; sie macht alle Zustände und Kräfte zu Bewegungen,<lb/>
stellt alle Bewegungen dar als Mengen geleisteter Arbeit<lb/>
und das ist ausgegebener Arbeitskraft oder Energie; um alle<lb/>
Vorgänge als gleichartig zu begreifen und als auf gleiche<lb/>
Weise in einander verwandelbar an einander zu messen.<lb/>
Dies ist so wahr, als die angenommenen Einheiten wahr<lb/>
sind, und als in der That das Feld der Möglichkeit als<lb/>
des Denkbaren grenzenlos ist; der Zweck des Begreifens<lb/>
wird dadurch erfüllt und andere Zwecke, welchen dieser<lb/>
dienstbar wird. Aber die Tendenzen und Nothwendigkeiten<lb/>
des organischen Werdens und Vergehens können nicht durch<lb/>
mechanische Mittel verstanden werden. Hier ist der Begriff<lb/>
selber eine Realität, lebendig, sich verändernd und sich ent-<lb/>
wickelnd, als Idee des individuellen Wesens. Wenn hier<lb/>
Wissenschaft hineingreift, so verwandelt sie ihre eigene<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[7/0043] Dasein als natürliche Ganze erscheinen und welche als Ganze Bewegung und Wirkungen haben in Bezug auf ihre Theile: die organischen Körper. Zu diesen gehören wir am Erkennen uns versuchende Menschen selber, von denen jeder ausser der vermittelten Kenntniss aller möglichen Körper eine unmittelbare seines eigenen hat. Durch un- vermeidliche Schlüsse erfahren wir, dass mit jedem leben- digen Körper ein psychisches Leben verbunden ist, wodurch er auf dieselbe Weise an und für sich vorhanden ist, wie wir uns selber wissen. Aber die objective Betrachtung lehrt nicht minder auf deutliche Weise: dass hier jedesmal ein Ganzes gegeben ist, welches nicht von den Theilen zusammen- gesetzt wird, sondern sie als von sich abhängige und durch sich bedingte hat; dass also es selber, als Ganzes, mithin als Form, wirklich und substantiell ist. Menschliche Kunst vermag nur unorganische Dinge aus unorganischen Stoffen hervorzubringen, sie theilend und wiederum verbindend. Zur Einheit gemacht werden auf diese Weise auch die Dinge durch wissenschaftliche Operationen und sind es in Begriffen. Naive Anschauung und künstlerische Phantasie, volklicher Glaube und begeisterte Dichtung gestalten die Erscheinungen zu lebendigen; das Künstlich-Thätige, nämlich Fingiren, hat Wissenschaft damit gemein. Aber sie macht auch das Leben- dige tot, um seine Verhältnisse und Zusammenhänge zu erfassen; sie macht alle Zustände und Kräfte zu Bewegungen, stellt alle Bewegungen dar als Mengen geleisteter Arbeit und das ist ausgegebener Arbeitskraft oder Energie; um alle Vorgänge als gleichartig zu begreifen und als auf gleiche Weise in einander verwandelbar an einander zu messen. Dies ist so wahr, als die angenommenen Einheiten wahr sind, und als in der That das Feld der Möglichkeit als des Denkbaren grenzenlos ist; der Zweck des Begreifens wird dadurch erfüllt und andere Zwecke, welchen dieser dienstbar wird. Aber die Tendenzen und Nothwendigkeiten des organischen Werdens und Vergehens können nicht durch mechanische Mittel verstanden werden. Hier ist der Begriff selber eine Realität, lebendig, sich verändernd und sich ent- wickelnd, als Idee des individuellen Wesens. Wenn hier Wissenschaft hineingreift, so verwandelt sie ihre eigene

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/43
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/43>, abgerufen am 26.04.2024.