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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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sehe, mit den tiefen politischen Einsichten des Rodbertus sonst
übereinstimmend, weniger als dieser den (durch allen theoretischen
und gesetzgeberischen guten Willen nur modificirbaren) patholo-
gischen Gang der modernen Gesellschaft zu erkennen scheinen.
Uebrigens aber verhehle ich nicht, dass meine Betrachtung die
tiefsten Eindrücke, anregende, belehrende, bestätigende, aus den
unter sich gar sehr verschiedenen Werken dreier ausgezeich-
neter Autoren empfangen hat, nämlich: 1) Sir Henry Maine's
(Ancient Law, Village Communities in the East and West, The
Early History of Institutions, Early Law and Custom), des
philosophischen Rechtshistorikers von weitestem Horizonte, an
dessen lichtvollen Apercus nur zu bedauern ist, dass er den
ungemeinen Aufschlüssen, welche von Bachofen (das Mutter-
recht) bis auf Morgan (Ancient Society) und ferner, in die
Urgeschichte der Familie, des Gemeinwesens und aller In-
stitutionen eingedrungen sind, einen ungerechten Widerstand
entgegensetzt; denn die optimistische Beurtheilung der modernen
Zustände halte ich ihm zu gute; 2) O. Gierke's (das deutsche
Genossenschaftsrecht, 3 Bände, dazu "Johannes Althusius" und
mehrere Aufsätze in Zeitschriften), dessen Gelehrsamkeit mir
immer neue Bewunderung, dessen Urtheil immer neue Achtung
einflösst, so wenig ich die für mich wichtigste (ökonomistische)
Ansicht in seinen Schriften antreffe; 3) des eben in diesem
Bezuge merkwürdigsten und tiefsten Social-Philosophen Karl
Marx
(Zur Kritik der politischen Oekonomie, das Kapital),
dessen Namen ich um so lieber hervorhebe, da ihm die angeb-
liche utopistische Phantasie, in deren definitive Ueberwindung
er seinen Stolz gesetzt hat, auch von Tüchtigen nicht verziehen
wird (dass aber der Denker an den praktischen Arbeiter-
bewegungen einen Antheil genommen hat, geht doch seine Kri-
tiker nichts an; wenn sie dies für unmoralisch halten, wer
kümmert sich um ihre Immoralitäten?). Der Gedanke, wel-
chen ich für mich auf diese Weise ausdrücke: dass die natür-
liche und (für uns) vergangene, immer aber zu Grunde liegende
Constitution der Cultur communistisch ist, die actuelle und
werdende socialistisch, ist, wie ich glaube, jenen echten Histo-
rikern, wo sie sich selber am schärfsten verstehen, nicht
fremd, wenn auch nur der Entdecker der kapitalistischen

sehe, mit den tiefen politischen Einsichten des Rodbertus sonst
übereinstimmend, weniger als dieser den (durch allen theoretischen
und gesetzgeberischen guten Willen nur modificirbaren) patholo-
gischen Gang der modernen Gesellschaft zu erkennen scheinen.
Uebrigens aber verhehle ich nicht, dass meine Betrachtung die
tiefsten Eindrücke, anregende, belehrende, bestätigende, aus den
unter sich gar sehr verschiedenen Werken dreier ausgezeich-
neter Autoren empfangen hat, nämlich: 1) Sir Henry Maine’s
(Ancient Law, Village Communities in the East and West, The
Early History of Institutions, Early Law and Custom), des
philosophischen Rechtshistorikers von weitestem Horizonte, an
dessen lichtvollen Aperçus nur zu bedauern ist, dass er den
ungemeinen Aufschlüssen, welche von Bachofen (das Mutter-
recht) bis auf Morgan (Ancient Society) und ferner, in die
Urgeschichte der Familie, des Gemeinwesens und aller In-
stitutionen eingedrungen sind, einen ungerechten Widerstand
entgegensetzt; denn die optimistische Beurtheilung der modernen
Zustände halte ich ihm zu gute; 2) O. Gierke’s (das deutsche
Genossenschaftsrecht, 3 Bände, dazu «Johannes Althusius» und
mehrere Aufsätze in Zeitschriften), dessen Gelehrsamkeit mir
immer neue Bewunderung, dessen Urtheil immer neue Achtung
einflösst, so wenig ich die für mich wichtigste (ökonomistische)
Ansicht in seinen Schriften antreffe; 3) des eben in diesem
Bezuge merkwürdigsten und tiefsten Social-Philosophen Karl
Marx
(Zur Kritik der politischen Oekonomie, das Kapital),
dessen Namen ich um so lieber hervorhebe, da ihm die angeb-
liche utopistische Phantasie, in deren definitive Ueberwindung
er seinen Stolz gesetzt hat, auch von Tüchtigen nicht verziehen
wird (dass aber der Denker an den praktischen Arbeiter-
bewegungen einen Antheil genommen hat, geht doch seine Kri-
tiker nichts an; wenn sie dies für unmoralisch halten, wer
kümmert sich um ihre Immoralitäten?). Der Gedanke, wel-
chen ich für mich auf diese Weise ausdrücke: dass die natür-
liche und (für uns) vergangene, immer aber zu Grunde liegende
Constitution der Cultur communistisch ist, die actuelle und
werdende socialistisch, ist, wie ich glaube, jenen echten Histo-
rikern, wo sie sich selber am schärfsten verstehen, nicht
fremd, wenn auch nur der Entdecker der kapitalistischen

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[XXVIII/0034] sehe, mit den tiefen politischen Einsichten des Rodbertus sonst übereinstimmend, weniger als dieser den (durch allen theoretischen und gesetzgeberischen guten Willen nur modificirbaren) patholo- gischen Gang der modernen Gesellschaft zu erkennen scheinen. Uebrigens aber verhehle ich nicht, dass meine Betrachtung die tiefsten Eindrücke, anregende, belehrende, bestätigende, aus den unter sich gar sehr verschiedenen Werken dreier ausgezeich- neter Autoren empfangen hat, nämlich: 1) Sir Henry Maine’s (Ancient Law, Village Communities in the East and West, The Early History of Institutions, Early Law and Custom), des philosophischen Rechtshistorikers von weitestem Horizonte, an dessen lichtvollen Aperçus nur zu bedauern ist, dass er den ungemeinen Aufschlüssen, welche von Bachofen (das Mutter- recht) bis auf Morgan (Ancient Society) und ferner, in die Urgeschichte der Familie, des Gemeinwesens und aller In- stitutionen eingedrungen sind, einen ungerechten Widerstand entgegensetzt; denn die optimistische Beurtheilung der modernen Zustände halte ich ihm zu gute; 2) O. Gierke’s (das deutsche Genossenschaftsrecht, 3 Bände, dazu «Johannes Althusius» und mehrere Aufsätze in Zeitschriften), dessen Gelehrsamkeit mir immer neue Bewunderung, dessen Urtheil immer neue Achtung einflösst, so wenig ich die für mich wichtigste (ökonomistische) Ansicht in seinen Schriften antreffe; 3) des eben in diesem Bezuge merkwürdigsten und tiefsten Social-Philosophen Karl Marx (Zur Kritik der politischen Oekonomie, das Kapital), dessen Namen ich um so lieber hervorhebe, da ihm die angeb- liche utopistische Phantasie, in deren definitive Ueberwindung er seinen Stolz gesetzt hat, auch von Tüchtigen nicht verziehen wird (dass aber der Denker an den praktischen Arbeiter- bewegungen einen Antheil genommen hat, geht doch seine Kri- tiker nichts an; wenn sie dies für unmoralisch halten, wer kümmert sich um ihre Immoralitäten?). Der Gedanke, wel- chen ich für mich auf diese Weise ausdrücke: dass die natür- liche und (für uns) vergangene, immer aber zu Grunde liegende Constitution der Cultur communistisch ist, die actuelle und werdende socialistisch, ist, wie ich glaube, jenen echten Histo- rikern, wo sie sich selber am schärfsten verstehen, nicht fremd, wenn auch nur der Entdecker der kapitalistischen

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. XXVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/34>, abgerufen am 26.04.2024.