Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite
THEMA.

§ 1.

Die menschlichen Willen stehen in vielfachen Be-
ziehungen zu einander; jede solche Beziehung ist eine
gegenseitige Wirkung, welche insofern, als von der einen
Seite gethan oder gegeben, von der anderen erlitten oder
empfangen wird. Diese Wirkungen sind aber entweder so
beschaffen, dass sie zur Erhaltung, oder so, dass sie zur Zer-
störung des anderen Willens und Leibes tendiren: bejahende
oder verneinende. Auf die Verhältnisse gegenseitiger Be-
jahung wird diese Theorie als auf die Objecte ihrer Unter-
suchung gerichtet sein. Jedes solches Verhältniss stellt
Einheit in der Mehrheit oder Mehrheit in der Einheit dar.
Es besteht aus Förderungen, Erleichterungen, Leistungen,
welche hinüber und herüber gehen, und als Ausdrücke der
Willen und ihrer Kräfte betrachtet werden. Die durch
dieses positive Verhältniss gebildete Gruppe heisst, als ein-
heitlich nach innen und nach aussen wirkendes Wesen oder
Ding aufgefasst, eine Verbindung. Das Verhältniss selber,
und also die Verbindung wird entweder als reales und
organisches Leben begriffen -- dies ist das Wesen der
Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bildung
-- dies ist der Begriff der Gesellschaft. Durch die An-
wendung wird sich herausstellen, dass die gewählten Namen
im synonymischen Gebrauche deutscher Sprache begründet
sind. Aber die bisherige wissenschaftliche Terminologie

1*
THEMA.

§ 1.

Die menschlichen Willen stehen in vielfachen Be-
ziehungen zu einander; jede solche Beziehung ist eine
gegenseitige Wirkung, welche insofern, als von der einen
Seite gethan oder gegeben, von der anderen erlitten oder
empfangen wird. Diese Wirkungen sind aber entweder so
beschaffen, dass sie zur Erhaltung, oder so, dass sie zur Zer-
störung des anderen Willens und Leibes tendiren: bejahende
oder verneinende. Auf die Verhältnisse gegenseitiger Be-
jahung wird diese Theorie als auf die Objecte ihrer Unter-
suchung gerichtet sein. Jedes solches Verhältniss stellt
Einheit in der Mehrheit oder Mehrheit in der Einheit dar.
Es besteht aus Förderungen, Erleichterungen, Leistungen,
welche hinüber und herüber gehen, und als Ausdrücke der
Willen und ihrer Kräfte betrachtet werden. Die durch
dieses positive Verhältniss gebildete Gruppe heisst, als ein-
heitlich nach innen und nach aussen wirkendes Wesen oder
Ding aufgefasst, eine Verbindung. Das Verhältniss selber,
und also die Verbindung wird entweder als reales und
organisches Leben begriffen — dies ist das Wesen der
Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bildung
— dies ist der Begriff der Gesellschaft. Durch die An-
wendung wird sich herausstellen, dass die gewählten Namen
im synonymischen Gebrauche deutscher Sprache begründet
sind. Aber die bisherige wissenschaftliche Terminologie

1*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0039" n="[3]"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">THEMA.</hi> </head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <head>§ 1.</head><lb/>
            <p>Die menschlichen <hi rendition="#g">Willen</hi> stehen in vielfachen Be-<lb/>
ziehungen zu einander; jede solche Beziehung ist eine<lb/>
gegenseitige Wirkung, welche insofern, als von der einen<lb/>
Seite gethan oder gegeben, von der anderen erlitten oder<lb/>
empfangen wird. Diese Wirkungen sind aber entweder so<lb/>
beschaffen, dass sie zur Erhaltung, oder so, dass sie zur Zer-<lb/>
störung des anderen Willens und Leibes tendiren: bejahende<lb/>
oder verneinende. Auf die Verhältnisse gegenseitiger Be-<lb/>
jahung wird diese Theorie als auf die Objecte ihrer Unter-<lb/>
suchung gerichtet sein. Jedes solches Verhältniss stellt<lb/>
Einheit in der Mehrheit oder Mehrheit in der Einheit dar.<lb/>
Es besteht aus Förderungen, Erleichterungen, Leistungen,<lb/>
welche hinüber und herüber gehen, und als Ausdrücke der<lb/>
Willen und ihrer Kräfte betrachtet werden. Die durch<lb/>
dieses positive Verhältniss gebildete Gruppe heisst, als ein-<lb/>
heitlich nach innen und nach aussen wirkendes Wesen oder<lb/>
Ding aufgefasst, eine <hi rendition="#g">Verbindung</hi>. Das Verhältniss selber,<lb/>
und also die Verbindung wird entweder als reales und<lb/>
organisches Leben begriffen &#x2014; dies ist das Wesen der<lb/><hi rendition="#g">Gemeinschaft</hi>, oder als ideelle und mechanische Bildung<lb/>
&#x2014; dies ist der Begriff der <hi rendition="#g">Gesellschaft</hi>. Durch die An-<lb/>
wendung wird sich herausstellen, dass die gewählten Namen<lb/>
im synonymischen Gebrauche deutscher Sprache begründet<lb/>
sind. Aber die bisherige wissenschaftliche Terminologie<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">1*</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[3]/0039] THEMA. § 1. Die menschlichen Willen stehen in vielfachen Be- ziehungen zu einander; jede solche Beziehung ist eine gegenseitige Wirkung, welche insofern, als von der einen Seite gethan oder gegeben, von der anderen erlitten oder empfangen wird. Diese Wirkungen sind aber entweder so beschaffen, dass sie zur Erhaltung, oder so, dass sie zur Zer- störung des anderen Willens und Leibes tendiren: bejahende oder verneinende. Auf die Verhältnisse gegenseitiger Be- jahung wird diese Theorie als auf die Objecte ihrer Unter- suchung gerichtet sein. Jedes solches Verhältniss stellt Einheit in der Mehrheit oder Mehrheit in der Einheit dar. Es besteht aus Förderungen, Erleichterungen, Leistungen, welche hinüber und herüber gehen, und als Ausdrücke der Willen und ihrer Kräfte betrachtet werden. Die durch dieses positive Verhältniss gebildete Gruppe heisst, als ein- heitlich nach innen und nach aussen wirkendes Wesen oder Ding aufgefasst, eine Verbindung. Das Verhältniss selber, und also die Verbindung wird entweder als reales und organisches Leben begriffen — dies ist das Wesen der Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bildung — dies ist der Begriff der Gesellschaft. Durch die An- wendung wird sich herausstellen, dass die gewählten Namen im synonymischen Gebrauche deutscher Sprache begründet sind. Aber die bisherige wissenschaftliche Terminologie 1*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/39
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/39>, abgerufen am 20.12.2024.