Die antike Philosophie des Rechtes hatte sich das Pro- blem gestellt, ob das Recht ein Naturproduct (phusei) oder ein Kunstproduct (thesei s. nomo) sei. Die Antwort gegenwär- tiger Theorie geht dahin: dass Alles, was aus menschlichem Willen hervorgeht oder gebildet wird, natürlich ist und kunst- haft zugleich. Aber in seiner Entwicklung steigert sich das Kunsthafte gegen das Natürliche, je mehr die specifisch menschliche und insonderheit die mentale Kraft des Willens in Bedeutung und Anteil zunimmt; bis sie endlich in eine (relative) Freiheit von ihrer natürlichen Basis sich gestaltend, auch in einen Gegensatz gegen dieselbe gerathen kann. So ist alles gemeinschaftliche Recht zu verstehen als ein Er- zeugniss des menschlichen, denkenden Geistes: ein System von Gedanken, Regeln, Sätzen, das als solches einem Or- gane oder Werke vergleichbar, entstanden durch die viel- fache entsprechende Thätigkeit selber, durch Uebung, als Modification eines schon vorhandenen Gleichartig-Substan- tiellen, im Fortschritte vom Allgemeinen zum Besonderen. So ist es sich selber Zweck, wenn auch in nothwendigem
ZWEITER ABSCHNITT. DAS NATÜRLICHE IM RECHTE.
§ 15.
Die antike Philosophie des Rechtes hatte sich das Pro- blem gestellt, ob das Recht ein Naturproduct (φύσει) oder ein Kunstproduct (ϑέσει s. νόμῳ) sei. Die Antwort gegenwär- tiger Theorie geht dahin: dass Alles, was aus menschlichem Willen hervorgeht oder gebildet wird, natürlich ist und kunst- haft zugleich. Aber in seiner Entwicklung steigert sich das Kunsthafte gegen das Natürliche, je mehr die specifisch menschliche und insonderheit die mentale Kraft des Willens in Bedeutung und Anteil zunimmt; bis sie endlich in eine (relative) Freiheit von ihrer natürlichen Basis sich gestaltend, auch in einen Gegensatz gegen dieselbe gerathen kann. So ist alles gemeinschaftliche Recht zu verstehen als ein Er- zeugniss des menschlichen, denkenden Geistes: ein System von Gedanken, Regeln, Sätzen, das als solches einem Or- gane oder Werke vergleichbar, entstanden durch die viel- fache entsprechende Thätigkeit selber, durch Uebung, als Modification eines schon vorhandenen Gleichartig-Substan- tiellen, im Fortschritte vom Allgemeinen zum Besonderen. So ist es sich selber Zweck, wenn auch in nothwendigem
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0271"n="[235]"/><divn="2"><head>ZWEITER ABSCHNITT.<lb/><hirendition="#b">DAS NATÜRLICHE IM RECHTE.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><head>§ 15.</head><lb/><p>Die antike Philosophie des Rechtes hatte sich das Pro-<lb/>
blem gestellt, ob das Recht ein Naturproduct (φύσει) oder ein<lb/>
Kunstproduct (ϑέσει s. νόμῳ) sei. Die Antwort gegenwär-<lb/>
tiger Theorie geht dahin: dass Alles, was aus menschlichem<lb/>
Willen hervorgeht oder gebildet wird, natürlich ist und kunst-<lb/>
haft zugleich. Aber in seiner Entwicklung steigert sich<lb/>
das Kunsthafte gegen das Natürliche, je mehr die specifisch<lb/>
menschliche und insonderheit die mentale Kraft des Willens<lb/>
in Bedeutung und Anteil zunimmt; bis sie endlich in eine<lb/>
(relative) Freiheit von ihrer natürlichen Basis sich gestaltend,<lb/>
auch in einen Gegensatz gegen dieselbe gerathen kann. So<lb/>
ist alles gemeinschaftliche Recht zu verstehen als ein <hirendition="#g">Er-<lb/>
zeugniss</hi> des menschlichen, denkenden Geistes: ein System<lb/>
von Gedanken, Regeln, Sätzen, das als solches einem Or-<lb/>
gane oder Werke vergleichbar, entstanden durch die viel-<lb/>
fache entsprechende Thätigkeit selber, durch <hirendition="#g">Uebung</hi>, als<lb/>
Modification eines schon vorhandenen Gleichartig-Substan-<lb/>
tiellen, im Fortschritte vom Allgemeinen zum Besonderen.<lb/>
So ist es sich selber Zweck, wenn auch in nothwendigem<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[[235]/0271]
ZWEITER ABSCHNITT.
DAS NATÜRLICHE IM RECHTE.
§ 15.
Die antike Philosophie des Rechtes hatte sich das Pro-
blem gestellt, ob das Recht ein Naturproduct (φύσει) oder ein
Kunstproduct (ϑέσει s. νόμῳ) sei. Die Antwort gegenwär-
tiger Theorie geht dahin: dass Alles, was aus menschlichem
Willen hervorgeht oder gebildet wird, natürlich ist und kunst-
haft zugleich. Aber in seiner Entwicklung steigert sich
das Kunsthafte gegen das Natürliche, je mehr die specifisch
menschliche und insonderheit die mentale Kraft des Willens
in Bedeutung und Anteil zunimmt; bis sie endlich in eine
(relative) Freiheit von ihrer natürlichen Basis sich gestaltend,
auch in einen Gegensatz gegen dieselbe gerathen kann. So
ist alles gemeinschaftliche Recht zu verstehen als ein Er-
zeugniss des menschlichen, denkenden Geistes: ein System
von Gedanken, Regeln, Sätzen, das als solches einem Or-
gane oder Werke vergleichbar, entstanden durch die viel-
fache entsprechende Thätigkeit selber, durch Uebung, als
Modification eines schon vorhandenen Gleichartig-Substan-
tiellen, im Fortschritte vom Allgemeinen zum Besonderen.
So ist es sich selber Zweck, wenn auch in nothwendigem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. [235]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/271>, abgerufen am 20.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.