Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

nungen, welche einer über den regelmässigen oder wahr-
scheinlichen Verlauf der Dinge, wie sie durch ihn bestimm-
bar oder nicht bestimmbar sein mögen, hegen, vor sich
haben und benutzen mag, daher die Kenntniss von den
eigenen und fremden, entgegenstehenden (also zu über-
windenden) oder günstigen (also zu gewinnenden) Kräften
oder Mächten, nenne ich seine Bewusstheit. Solche
muss, damit Berechnung richtig sei, allen Ansätzen und
Schätzungen zu Grunde liegen. Das ist das verfügbare, zu
planmässiger Anwendung geeignete Wissen: Theorie und
Methode der Herrschaft über Natur und Menschen. Das
bewusste Individuum verschmäht alle dunklen Gefühle,
Ahnungen, Vorurtheile, als von nichtigem oder zweifelhaftem
Werthe in dieser Beziehung, und will nur seinen klar und
deutlich gefassten Begriffen gemäss seine Pläne, seine
Lebensführung und seine Weltansicht einrichten. Bewusst-
heit ist daher als Selbstbeurtheilung mit seiner Verdammung
ebensosehr gegen die eigenen (praktischen) Dummheiten,
wie Gewissen gegen die eigenen, vermeintlichen Schlechtig-
keiten gerichtet. Jene ist der höchste oder geistigste Aus-
druck der Willkür, dieses der höchste oder geistigste Aus-
druck des Wesenwillens.

§ 13.

Der oberste Zweck, welcher das Gedankensystem
eines Menschen beherrscht, wird nur gewollt, insofern als
das Wollen ein energisches Wünschen ist, in Gedanken.
Er wird gedacht als zukünftige, herankommende Lust. Er
steht nicht in der Freiheit, als etwas, das man -- je nach
Wunsch -- thun oder lassen, ergreifen und anwenden oder
müssig behalten könne. Er ist vielmehr etwas Fremdes:
möglicher Weise Inhalt fremden Willens, fremder Freiheit;
nothwendiger Weise von dem eigenen Thun und Wirken
verschieden. Und so: was Alle wünschen und ersehnen,
das Glück. Das ist zunächst nichts als günstige, angenehme
Umstände, welche Leben und Thun erleichtern, Werke ge-
lingen lassen, durch Gefahren sicher hindurchführen; Um-
stände, welche vielleicht sich voraussehen und verkün-

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 9

nungen, welche einer über den regelmässigen oder wahr-
scheinlichen Verlauf der Dinge, wie sie durch ihn bestimm-
bar oder nicht bestimmbar sein mögen, hegen, vor sich
haben und benutzen mag, daher die Kenntniss von den
eigenen und fremden, entgegenstehenden (also zu über-
windenden) oder günstigen (also zu gewinnenden) Kräften
oder Mächten, nenne ich seine Bewusstheit. Solche
muss, damit Berechnung richtig sei, allen Ansätzen und
Schätzungen zu Grunde liegen. Das ist das verfügbare, zu
planmässiger Anwendung geeignete Wissen: Theorie und
Methode der Herrschaft über Natur und Menschen. Das
bewusste Individuum verschmäht alle dunklen Gefühle,
Ahnungen, Vorurtheile, als von nichtigem oder zweifelhaftem
Werthe in dieser Beziehung, und will nur seinen klar und
deutlich gefassten Begriffen gemäss seine Pläne, seine
Lebensführung und seine Weltansicht einrichten. Bewusst-
heit ist daher als Selbstbeurtheilung mit seiner Verdammung
ebensosehr gegen die eigenen (praktischen) Dummheiten,
wie Gewissen gegen die eigenen, vermeintlichen Schlechtig-
keiten gerichtet. Jene ist der höchste oder geistigste Aus-
druck der Willkür, dieses der höchste oder geistigste Aus-
druck des Wesenwillens.

§ 13.

Der oberste Zweck, welcher das Gedankensystem
eines Menschen beherrscht, wird nur gewollt, insofern als
das Wollen ein energisches Wünschen ist, in Gedanken.
Er wird gedacht als zukünftige, herankommende Lust. Er
steht nicht in der Freiheit, als etwas, das man — je nach
Wunsch — thun oder lassen, ergreifen und anwenden oder
müssig behalten könne. Er ist vielmehr etwas Fremdes:
möglicher Weise Inhalt fremden Willens, fremder Freiheit;
nothwendiger Weise von dem eigenen Thun und Wirken
verschieden. Und so: was Alle wünschen und ersehnen,
das Glück. Das ist zunächst nichts als günstige, angenehme
Umstände, welche Leben und Thun erleichtern, Werke ge-
lingen lassen, durch Gefahren sicher hindurchführen; Um-
stände, welche vielleicht sich voraussehen und verkün-

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0165" n="129"/>
nungen, welche einer über den regelmässigen oder wahr-<lb/>
scheinlichen Verlauf der Dinge, wie sie durch ihn bestimm-<lb/>
bar oder nicht bestimmbar sein mögen, hegen, vor sich<lb/>
haben und benutzen mag, daher die Kenntniss von den<lb/>
eigenen und fremden, entgegenstehenden (also zu über-<lb/>
windenden) oder günstigen (also zu gewinnenden) Kräften<lb/>
oder Mächten, nenne ich seine <hi rendition="#g">Bewusstheit</hi>. Solche<lb/>
muss, damit Berechnung richtig sei, allen Ansätzen und<lb/>
Schätzungen zu Grunde liegen. Das ist das verfügbare, zu<lb/>
planmässiger Anwendung geeignete Wissen: Theorie und<lb/>
Methode der Herrschaft über Natur und Menschen. Das<lb/>
bewusste Individuum verschmäht alle dunklen Gefühle,<lb/>
Ahnungen, Vorurtheile, als von nichtigem oder zweifelhaftem<lb/>
Werthe in dieser Beziehung, und will nur seinen klar und<lb/>
deutlich gefassten Begriffen gemäss seine Pläne, seine<lb/>
Lebensführung und seine Weltansicht einrichten. Bewusst-<lb/>
heit ist daher als Selbstbeurtheilung mit seiner Verdammung<lb/>
ebensosehr gegen die eigenen (praktischen) <hi rendition="#g">Dummheiten</hi>,<lb/>
wie Gewissen gegen die eigenen, vermeintlichen Schlechtig-<lb/>
keiten gerichtet. Jene ist der höchste oder geistigste Aus-<lb/>
druck der Willkür, dieses der höchste oder geistigste Aus-<lb/>
druck des Wesenwillens.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§ 13.</head><lb/>
            <p>Der oberste Zweck, welcher das Gedankensystem<lb/>
eines Menschen beherrscht, wird nur gewollt, insofern als<lb/>
das Wollen ein energisches Wünschen ist, in Gedanken.<lb/>
Er wird gedacht als zukünftige, herankommende Lust. Er<lb/>
steht nicht in der Freiheit, als etwas, das man &#x2014; je nach<lb/>
Wunsch &#x2014; thun oder lassen, ergreifen und anwenden oder<lb/>
müssig behalten könne. Er ist vielmehr etwas Fremdes:<lb/>
möglicher Weise Inhalt fremden Willens, fremder Freiheit;<lb/>
nothwendiger Weise von dem eigenen Thun und Wirken<lb/>
verschieden. Und so: was <hi rendition="#g">Alle</hi> wünschen und ersehnen,<lb/>
das <hi rendition="#g">Glück</hi>. Das ist zunächst nichts als günstige, angenehme<lb/>
Umstände, welche Leben und Thun erleichtern, Werke ge-<lb/>
lingen lassen, durch Gefahren sicher hindurchführen; Um-<lb/>
stände, welche vielleicht sich voraussehen und verkün-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Tönnies</hi>, Gemeinschaft und Gesellschaft. 9</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[129/0165] nungen, welche einer über den regelmässigen oder wahr- scheinlichen Verlauf der Dinge, wie sie durch ihn bestimm- bar oder nicht bestimmbar sein mögen, hegen, vor sich haben und benutzen mag, daher die Kenntniss von den eigenen und fremden, entgegenstehenden (also zu über- windenden) oder günstigen (also zu gewinnenden) Kräften oder Mächten, nenne ich seine Bewusstheit. Solche muss, damit Berechnung richtig sei, allen Ansätzen und Schätzungen zu Grunde liegen. Das ist das verfügbare, zu planmässiger Anwendung geeignete Wissen: Theorie und Methode der Herrschaft über Natur und Menschen. Das bewusste Individuum verschmäht alle dunklen Gefühle, Ahnungen, Vorurtheile, als von nichtigem oder zweifelhaftem Werthe in dieser Beziehung, und will nur seinen klar und deutlich gefassten Begriffen gemäss seine Pläne, seine Lebensführung und seine Weltansicht einrichten. Bewusst- heit ist daher als Selbstbeurtheilung mit seiner Verdammung ebensosehr gegen die eigenen (praktischen) Dummheiten, wie Gewissen gegen die eigenen, vermeintlichen Schlechtig- keiten gerichtet. Jene ist der höchste oder geistigste Aus- druck der Willkür, dieses der höchste oder geistigste Aus- druck des Wesenwillens. § 13. Der oberste Zweck, welcher das Gedankensystem eines Menschen beherrscht, wird nur gewollt, insofern als das Wollen ein energisches Wünschen ist, in Gedanken. Er wird gedacht als zukünftige, herankommende Lust. Er steht nicht in der Freiheit, als etwas, das man — je nach Wunsch — thun oder lassen, ergreifen und anwenden oder müssig behalten könne. Er ist vielmehr etwas Fremdes: möglicher Weise Inhalt fremden Willens, fremder Freiheit; nothwendiger Weise von dem eigenen Thun und Wirken verschieden. Und so: was Alle wünschen und ersehnen, das Glück. Das ist zunächst nichts als günstige, angenehme Umstände, welche Leben und Thun erleichtern, Werke ge- lingen lassen, durch Gefahren sicher hindurchführen; Um- stände, welche vielleicht sich voraussehen und verkün- Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 9

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/165
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/165>, abgerufen am 20.12.2024.