Die erste Sünd ist die, daß man den Herrn beleidigt! Die andre, größre noch, ist, daß man sie vertheidigt.
"Es ist ein Naturfehler, welchen ich schon längst, aber verge- &q;bens, abzulegen gesucht habe. Jch muß schon meinem &q;unglücklichen Hange folgen. Die Verführung ist groß, und &q;die böse Welt zwinget einen ja fast dazu. Die Noth und die &q;unglücklichen Umstände, in welchen ich mich befinde, müssen &q;mich vor Gott und Menschen entschuldigen. Andre begingen &q;meine Sünde, wofern es eine ist, noch öfterer, ohne halb so &q;sehr dazu gedrungen zu seyn, als ich. Jndessen, wer leidet un- &q;ter meinen kleinen Unart? Hie und da eine Person, die es ver- &q;dient: aber mancher Arme und Rechtschaffne hat doch auch sei- &q;nen Genuß davon. Das sind doch Freunde Gottes. Die Vor- &q;sicht braucht mich also zu einem Werkzeuge, wodurch mancher &q;bestraft und mancher belohnet wird. Aber, um alles zu thun, &q;was der Himmel nur verlangen kan: so will ich so bald als &q;möglich meine jetzige Vergehung einstellen. Wäre ich gottlos, &q;so würde ich so weit nicht einmal denken. Aber ich habe noch &q;ein Gewissen, und das Schicksal höre nur auf mich zu versuchen, &q;so will ich so gut ein Heiliger seyn, wie ein andrer."
Hast du, mein Herz! nicht oftmals ähnliche Gedanken ge- hegt, wenn du der Sachwalter der Sünden warst? Nicht wahr, du findest diese Vertheidigung sehr bündig, wenn sie deiner Lieblingssünde zum besten gehalten wird? Aber wiß, es bedienet sich ihrer auch -- der Dieb, welcher diese Nacht bei uns ein- brechen will.
Kan Eine Sünde entschuldiget werden, so können sie es alle. Daß eine Kupplerin sich für nothwendig im Staate hält, und ihrem Nächsten mit Gefahr und uneigennütziger als viele
andre
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Der 12te Junius.
Die erſte Suͤnd iſt die, daß man den Herrn beleidigt! Die andre, groͤßre noch, iſt, daß man ſie vertheidigt.
„Es iſt ein Naturfehler, welchen ich ſchon laͤngſt, aber verge- &q;bens, abzulegen geſucht habe. Jch muß ſchon meinem &q;ungluͤcklichen Hange folgen. Die Verfuͤhrung iſt groß, und &q;die boͤſe Welt zwinget einen ja faſt dazu. Die Noth und die &q;ungluͤcklichen Umſtaͤnde, in welchen ich mich befinde, muͤſſen &q;mich vor Gott und Menſchen entſchuldigen. Andre begingen &q;meine Suͤnde, wofern es eine iſt, noch oͤfterer, ohne halb ſo &q;ſehr dazu gedrungen zu ſeyn, als ich. Jndeſſen, wer leidet un- &q;ter meinen kleinen Unart? Hie und da eine Perſon, die es ver- &q;dient: aber mancher Arme und Rechtſchaffne hat doch auch ſei- &q;nen Genuß davon. Das ſind doch Freunde Gottes. Die Vor- &q;ſicht braucht mich alſo zu einem Werkzeuge, wodurch mancher &q;beſtraft und mancher belohnet wird. Aber, um alles zu thun, &q;was der Himmel nur verlangen kan: ſo will ich ſo bald als &q;moͤglich meine jetzige Vergehung einſtellen. Waͤre ich gottlos, &q;ſo wuͤrde ich ſo weit nicht einmal denken. Aber ich habe noch &q;ein Gewiſſen, und das Schickſal hoͤre nur auf mich zu verſuchen, &q;ſo will ich ſo gut ein Heiliger ſeyn, wie ein andrer.„
Haſt du, mein Herz! nicht oftmals aͤhnliche Gedanken ge- hegt, wenn du der Sachwalter der Suͤnden warſt? Nicht wahr, du findeſt dieſe Vertheidigung ſehr buͤndig, wenn ſie deiner Lieblingsſuͤnde zum beſten gehalten wird? Aber wiß, es bedienet ſich ihrer auch — der Dieb, welcher dieſe Nacht bei uns ein- brechen will.
Kan Eine Suͤnde entſchuldiget werden, ſo koͤnnen ſie es alle. Daß eine Kupplerin ſich fuͤr nothwendig im Staate haͤlt, und ihrem Naͤchſten mit Gefahr und uneigennuͤtziger als viele
andre
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[339[369]/0376]
Der 12te Junius.
Die erſte Suͤnd iſt die, daß man den Herrn beleidigt!
Die andre, groͤßre noch, iſt, daß man ſie vertheidigt.
„Es iſt ein Naturfehler, welchen ich ſchon laͤngſt, aber verge-
&q;bens, abzulegen geſucht habe. Jch muß ſchon meinem
&q;ungluͤcklichen Hange folgen. Die Verfuͤhrung iſt groß, und
&q;die boͤſe Welt zwinget einen ja faſt dazu. Die Noth und die
&q;ungluͤcklichen Umſtaͤnde, in welchen ich mich befinde, muͤſſen
&q;mich vor Gott und Menſchen entſchuldigen. Andre begingen
&q;meine Suͤnde, wofern es eine iſt, noch oͤfterer, ohne halb ſo
&q;ſehr dazu gedrungen zu ſeyn, als ich. Jndeſſen, wer leidet un-
&q;ter meinen kleinen Unart? Hie und da eine Perſon, die es ver-
&q;dient: aber mancher Arme und Rechtſchaffne hat doch auch ſei-
&q;nen Genuß davon. Das ſind doch Freunde Gottes. Die Vor-
&q;ſicht braucht mich alſo zu einem Werkzeuge, wodurch mancher
&q;beſtraft und mancher belohnet wird. Aber, um alles zu thun,
&q;was der Himmel nur verlangen kan: ſo will ich ſo bald als
&q;moͤglich meine jetzige Vergehung einſtellen. Waͤre ich gottlos,
&q;ſo wuͤrde ich ſo weit nicht einmal denken. Aber ich habe noch
&q;ein Gewiſſen, und das Schickſal hoͤre nur auf mich zu verſuchen,
&q;ſo will ich ſo gut ein Heiliger ſeyn, wie ein andrer.„
Haſt du, mein Herz! nicht oftmals aͤhnliche Gedanken ge-
hegt, wenn du der Sachwalter der Suͤnden warſt? Nicht
wahr, du findeſt dieſe Vertheidigung ſehr buͤndig, wenn ſie deiner
Lieblingsſuͤnde zum beſten gehalten wird? Aber wiß, es bedienet
ſich ihrer auch — der Dieb, welcher dieſe Nacht bei uns ein-
brechen will.
Kan Eine Suͤnde entſchuldiget werden, ſo koͤnnen ſie es
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 339[369]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/376>, abgerufen am 21.11.2024.
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