Wohl dir, o Tugendfreund! daß droben Nicht Menschen tadeln, Menschen loben: Das blinde Volk versteht es nicht. Es sieht nur durch Vergrößrungsgläser, Die man für seinen Jrthum schleift! Es rühmet was als Zeitungsleser, Und schimpft auf das, was nicht in seinem Treibhaus reift.
Nichts ist unsichrer, als die Rangordnung, welche Men- schen unter einander machen. Für Geld, Schmeicheleien und Frohndienste kan man sich hoch bei ihnen anbringen. Aber Eine unehrerbietige Miene, Eine versagte Dienstleistung setzen auch wieder sehr tief herab. Die Rangliste eines sinnlichen Menschen lautet etwa folgendermassen:
"Obenan stehe ich selbst. Alle Menschen, die ich kenne, &q;haben so viele Fehler, daß sie mir diesen Ort nicht streitig ma- &q;chen können. Den zweiten Platz weise ich denen an, welche &q;das Glück haben, meine Freunde und Anverwandten zu seyn. &q;Jn dieser Rubrick muß auch wol das Schoßhündchen gesetzt &q;werden; denn drittens kommen schon diejenigen, die für mich &q;arbeiten. Die vierte Stelle gehöret wol den Mächtigen, welche &q;mir etwas geben oder nehmen können. Vom fünften Range &q;sollen die seyn, welche mich belustigen und verführen können. An &q;sie schliessen sich erfahrne Greise, Obrigkeit und Lehrer an, wofern &q;sie mir nicht unangenehme Dinge sagen; denn sonst stosse ich sie &q;zurück. Jn den sechsten Raum werfe ich -- sie taugen alle &q;nichts! Jedoch, Ordnung muß seyn. Seidene Kleider gehen &q;also vorauf; sind sie mit Gold besetzt: desto besser! dann ist ihr &q;Werth entschieden. Ein schönes Gesicht, vornehme Geburt, &q;und jeder, der gleich dem Teufel schaden kan, müssen doch auch dem
&q;Pöbel
Tiedens Abendand. I. Th. Y
Der 11te Junius.
Wohl dir, o Tugendfreund! daß droben Nicht Menſchen tadeln, Menſchen loben: Das blinde Volk verſteht es nicht. Es ſieht nur durch Vergroͤßrungsglaͤſer, Die man fuͤr ſeinen Jrthum ſchleift! Es ruͤhmet was als Zeitungsleſer, Und ſchimpft auf das, was nicht in ſeinem Treibhaus reift.
Nichts iſt unſichrer, als die Rangordnung, welche Men- ſchen unter einander machen. Fuͤr Geld, Schmeicheleien und Frohndienſte kan man ſich hoch bei ihnen anbringen. Aber Eine unehrerbietige Miene, Eine verſagte Dienſtleiſtung ſetzen auch wieder ſehr tief herab. Die Rangliſte eines ſinnlichen Menſchen lautet etwa folgendermaſſen:
„Obenan ſtehe ich ſelbſt. Alle Menſchen, die ich kenne, &q;haben ſo viele Fehler, daß ſie mir dieſen Ort nicht ſtreitig ma- &q;chen koͤnnen. Den zweiten Platz weiſe ich denen an, welche &q;das Gluͤck haben, meine Freunde und Anverwandten zu ſeyn. &q;Jn dieſer Rubrick muß auch wol das Schoßhuͤndchen geſetzt &q;werden; denn drittens kommen ſchon diejenigen, die fuͤr mich &q;arbeiten. Die vierte Stelle gehoͤret wol den Maͤchtigen, welche &q;mir etwas geben oder nehmen koͤnnen. Vom fuͤnften Range &q;ſollen die ſeyn, welche mich beluſtigen und verfuͤhren koͤnnen. An &q;ſie ſchlieſſen ſich erfahrne Greiſe, Obrigkeit und Lehrer an, wofern &q;ſie mir nicht unangenehme Dinge ſagen; denn ſonſt ſtoſſe ich ſie &q;zuruͤck. Jn den ſechſten Raum werfe ich — ſie taugen alle &q;nichts! Jedoch, Ordnung muß ſeyn. Seidene Kleider gehen &q;alſo vorauf; ſind ſie mit Gold beſetzt: deſto beſſer! dann iſt ihr &q;Werth entſchieden. Ein ſchoͤnes Geſicht, vornehme Geburt, &q;und jeder, der gleich dem Teufel ſchaden kan, muͤſſen doch auch dem
&q;Poͤbel
Tiedens Abendand. I. Th. Y
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[337[367]/0374]
Der 11te Junius.
Wohl dir, o Tugendfreund! daß droben
Nicht Menſchen tadeln, Menſchen loben:
Das blinde Volk verſteht es nicht.
Es ſieht nur durch Vergroͤßrungsglaͤſer,
Die man fuͤr ſeinen Jrthum ſchleift!
Es ruͤhmet was als Zeitungsleſer,
Und ſchimpft auf das, was nicht in ſeinem Treibhaus reift.
Nichts iſt unſichrer, als die Rangordnung, welche Men-
ſchen unter einander machen. Fuͤr Geld, Schmeicheleien
und Frohndienſte kan man ſich hoch bei ihnen anbringen. Aber
Eine unehrerbietige Miene, Eine verſagte Dienſtleiſtung ſetzen
auch wieder ſehr tief herab. Die Rangliſte eines ſinnlichen
Menſchen lautet etwa folgendermaſſen:
„Obenan ſtehe ich ſelbſt. Alle Menſchen, die ich kenne,
&q;haben ſo viele Fehler, daß ſie mir dieſen Ort nicht ſtreitig ma-
&q;chen koͤnnen. Den zweiten Platz weiſe ich denen an, welche
&q;das Gluͤck haben, meine Freunde und Anverwandten zu ſeyn.
&q;Jn dieſer Rubrick muß auch wol das Schoßhuͤndchen geſetzt
&q;werden; denn drittens kommen ſchon diejenigen, die fuͤr mich
&q;arbeiten. Die vierte Stelle gehoͤret wol den Maͤchtigen, welche
&q;mir etwas geben oder nehmen koͤnnen. Vom fuͤnften Range
&q;ſollen die ſeyn, welche mich beluſtigen und verfuͤhren koͤnnen. An
&q;ſie ſchlieſſen ſich erfahrne Greiſe, Obrigkeit und Lehrer an, wofern
&q;ſie mir nicht unangenehme Dinge ſagen; denn ſonſt ſtoſſe ich ſie
&q;zuruͤck. Jn den ſechſten Raum werfe ich — ſie taugen alle
&q;nichts! Jedoch, Ordnung muß ſeyn. Seidene Kleider gehen
&q;alſo vorauf; ſind ſie mit Gold beſetzt: deſto beſſer! dann iſt ihr
&q;Werth entſchieden. Ein ſchoͤnes Geſicht, vornehme Geburt,
&q;und jeder, der gleich dem Teufel ſchaden kan, muͤſſen doch auch dem
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 337[367]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/374>, abgerufen am 22.02.2025.
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