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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 31te Mai.
Nach Gedanken, nicht nach Jahren
Rechne deine Lebensfrist.
Zeig in Thaten mehr als Haaren,
Daß du reif zum Engel bist.


Wie viel Monate beträgt nun schon mein wahres Alter?
-- Doch, welchen Theil von mir selbst meine ich? Der
Bediente meiner Seele, mein Körper, weiß sein Alter genau.
Seine verschoßne Livrei, die immer gelbre Haut, auf welche jeder
Monat seinen Besuch einkerbt, führt eine solche pünktliche Rechrung,
wie irgend das Tausbuch meines Kirchsprengels. Jch verlange
aber zu wissen, wie alt mein wahres Jch, der Theil von mir,
der keiner Verwesung unterworfen ist; wie alt der sey, das wäre
meiner lebhaftesten Neugierde werth.

Leben solte nur von Geistern gesaget werden: Pflanzen kei-
men und Thiere empfinden nur. Leben setzer Verstand, nicht der
an Höfen oder in Spielgesellschaften gilt, sondern wahren Ver-
stand, den Engel nicht Tollheit nennen, voraus. Summire ich
nun alle Stunden meines so genannten Lebens: so machen mir
der Schlaf, der Laufwagen oder das Gängelband, die mehreste
Zeit des Essens, Arbeitens, Gähnens, Schmeichelns, einen sol-
chen Abzug: Trunkenheit von starkem Getränk oder Leidenschaf-
ten, ernsthafte Kindereien, Moden, Komplimente: -- o! ich
besorge, bei dieser Rechnung, ein jähriges Kind zu werden! Nie-
mand lüget mehr, als graue Haare; sie roden von siebzig Jah-
ren, wenn öfters der Verstand nur von Tagen spricht. Der
Körper eilet zur Reife, gleich einem Minutenzeiger: die Seele
aber gleitet sehr unmerklich fort. Jener weiset nicht selten auf
Zwölfe, wenn diese kaum Eins ist. Mit Einem Worte: ich

lebe
U 5


Der 31te Mai.
Nach Gedanken, nicht nach Jahren
Rechne deine Lebensfriſt.
Zeig in Thaten mehr als Haaren,
Daß du reif zum Engel biſt.


Wie viel Monate betraͤgt nun ſchon mein wahres Alter?
— Doch, welchen Theil von mir ſelbſt meine ich? Der
Bediente meiner Seele, mein Koͤrper, weiß ſein Alter genau.
Seine verſchoßne Livrei, die immer gelbre Haut, auf welche jeder
Monat ſeinen Beſuch einkerbt, fuͤhrt eine ſolche puͤnktliche Rechrung,
wie irgend das Tauſbuch meines Kirchſprengels. Jch verlange
aber zu wiſſen, wie alt mein wahres Jch, der Theil von mir,
der keiner Verweſung unterworfen iſt; wie alt der ſey, das waͤre
meiner lebhafteſten Neugierde werth.

Leben ſolte nur von Geiſtern geſaget werden: Pflanzen kei-
men und Thiere empfinden nur. Leben ſetzer Verſtand, nicht der
an Hoͤfen oder in Spielgeſellſchaften gilt, ſondern wahren Ver-
ſtand, den Engel nicht Tollheit nennen, voraus. Summire ich
nun alle Stunden meines ſo genannten Lebens: ſo machen mir
der Schlaf, der Laufwagen oder das Gaͤngelband, die mehreſte
Zeit des Eſſens, Arbeitens, Gaͤhnens, Schmeichelns, einen ſol-
chen Abzug: Trunkenheit von ſtarkem Getraͤnk oder Leidenſchaf-
ten, ernſthafte Kindereien, Moden, Komplimente: — o! ich
beſorge, bei dieſer Rechnung, ein jaͤhriges Kind zu werden! Nie-
mand luͤget mehr, als graue Haare; ſie roden von ſiebzig Jah-
ren, wenn oͤfters der Verſtand nur von Tagen ſpricht. Der
Koͤrper eilet zur Reife, gleich einem Minutenzeiger: die Seele
aber gleitet ſehr unmerklich fort. Jener weiſet nicht ſelten auf
Zwoͤlfe, wenn dieſe kaum Eins iſt. Mit Einem Worte: ich

lebe
U 5
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[313[343]/0350] Der 31te Mai. Nach Gedanken, nicht nach Jahren Rechne deine Lebensfriſt. Zeig in Thaten mehr als Haaren, Daß du reif zum Engel biſt. Wie viel Monate betraͤgt nun ſchon mein wahres Alter? — Doch, welchen Theil von mir ſelbſt meine ich? Der Bediente meiner Seele, mein Koͤrper, weiß ſein Alter genau. Seine verſchoßne Livrei, die immer gelbre Haut, auf welche jeder Monat ſeinen Beſuch einkerbt, fuͤhrt eine ſolche puͤnktliche Rechrung, wie irgend das Tauſbuch meines Kirchſprengels. Jch verlange aber zu wiſſen, wie alt mein wahres Jch, der Theil von mir, der keiner Verweſung unterworfen iſt; wie alt der ſey, das waͤre meiner lebhafteſten Neugierde werth. Leben ſolte nur von Geiſtern geſaget werden: Pflanzen kei- men und Thiere empfinden nur. Leben ſetzer Verſtand, nicht der an Hoͤfen oder in Spielgeſellſchaften gilt, ſondern wahren Ver- ſtand, den Engel nicht Tollheit nennen, voraus. Summire ich nun alle Stunden meines ſo genannten Lebens: ſo machen mir der Schlaf, der Laufwagen oder das Gaͤngelband, die mehreſte Zeit des Eſſens, Arbeitens, Gaͤhnens, Schmeichelns, einen ſol- chen Abzug: Trunkenheit von ſtarkem Getraͤnk oder Leidenſchaf- ten, ernſthafte Kindereien, Moden, Komplimente: — o! ich beſorge, bei dieſer Rechnung, ein jaͤhriges Kind zu werden! Nie- mand luͤget mehr, als graue Haare; ſie roden von ſiebzig Jah- ren, wenn oͤfters der Verſtand nur von Tagen ſpricht. Der Koͤrper eilet zur Reife, gleich einem Minutenzeiger: die Seele aber gleitet ſehr unmerklich fort. Jener weiſet nicht ſelten auf Zwoͤlfe, wenn dieſe kaum Eins iſt. Mit Einem Worte: ich lebe U 5

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 313[343]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/350>, abgerufen am 21.11.2024.