Du gibst aus Huld uns dieser Erde Freuden: Aus gleicher Huld verhängst du unsre Leiden. Jst nur mein Weh nicht meine Schuld: So zag ich nicht, du gibst Geduld.
Ja, Gott! du bist gleich gütig; der lächelnde Mai mag uns ins Freie rufen, oder der rauhe November in unsre Wohnung verschliessen. Der jetzige Monat schmeichelt uns freilich sehr, aber er gibt uns wenig, und läßt es bei guten Versprechungen bewen- den. Blumen und Gesang liefert er uns wol, aber können wir davon leben? Der schwüle Julius und der regnigte November sind uns so nothwendig als er.
Die Anwendung auf das Nützliche der Leiden ist nicht schwer. Dem ersten Anschein nach wäre es am besten, wenn unser Leben aus lauter Freuden bestünde. Achzigjährige Gesund- heit, reiche Kapitale, mächtige Freunde, Gelehrsamkeit, Glück und Ansehn: das wäre etwa der Maimonat, in welchem ich mein Leben zubringen wolte. Aber Thorheit!
Das Feld kan ohne Ungestüm Gar keine Früchte tragen: So fält auch Menschen Wohlfart um Bei lauter guten Tagen.
Bei langen Frühlingsschicksalen verhungert die Seele. Stür- me müssen die Fäulniß verjagen, und die Kräfte der Wurzeln prüfen. Es gab niemals grosse Menschen in der Welt, die nicht gelitten hätten. Helden dürfen keine Witterung, und Christen
weder
Der 24te Mai.
Du gibſt aus Huld uns dieſer Erde Freuden: Aus gleicher Huld verhaͤngſt du unſre Leiden. Jſt nur mein Weh nicht meine Schuld: So zag ich nicht, du gibſt Geduld.
Ja, Gott! du biſt gleich guͤtig; der laͤchelnde Mai mag uns ins Freie rufen, oder der rauhe November in unſre Wohnung verſchlieſſen. Der jetzige Monat ſchmeichelt uns freilich ſehr, aber er gibt uns wenig, und laͤßt es bei guten Verſprechungen bewen- den. Blumen und Geſang liefert er uns wol, aber koͤnnen wir davon leben? Der ſchwuͤle Julius und der regnigte November ſind uns ſo nothwendig als er.
Die Anwendung auf das Nuͤtzliche der Leiden iſt nicht ſchwer. Dem erſten Anſchein nach waͤre es am beſten, wenn unſer Leben aus lauter Freuden beſtuͤnde. Achzigjaͤhrige Geſund- heit, reiche Kapitale, maͤchtige Freunde, Gelehrſamkeit, Gluͤck und Anſehn: das waͤre etwa der Maimonat, in welchem ich mein Leben zubringen wolte. Aber Thorheit!
Das Feld kan ohne Ungeſtuͤm Gar keine Fruͤchte tragen: So faͤlt auch Menſchen Wohlfart um Bei lauter guten Tagen.
Bei langen Fruͤhlingsſchickſalen verhungert die Seele. Stuͤr- me muͤſſen die Faͤulniß verjagen, und die Kraͤfte der Wurzeln pruͤfen. Es gab niemals groſſe Menſchen in der Welt, die nicht gelitten haͤtten. Helden duͤrfen keine Witterung, und Chriſten
weder
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Der 24te Mai.
Du gibſt aus Huld uns dieſer Erde Freuden:
Aus gleicher Huld verhaͤngſt du unſre Leiden.
Jſt nur mein Weh nicht meine Schuld:
So zag ich nicht, du gibſt Geduld.
Ja, Gott! du biſt gleich guͤtig; der laͤchelnde Mai mag uns
ins Freie rufen, oder der rauhe November in unſre Wohnung
verſchlieſſen. Der jetzige Monat ſchmeichelt uns freilich ſehr, aber
er gibt uns wenig, und laͤßt es bei guten Verſprechungen bewen-
den. Blumen und Geſang liefert er uns wol, aber koͤnnen wir
davon leben? Der ſchwuͤle Julius und der regnigte November
ſind uns ſo nothwendig als er.
Die Anwendung auf das Nuͤtzliche der Leiden iſt nicht
ſchwer. Dem erſten Anſchein nach waͤre es am beſten, wenn
unſer Leben aus lauter Freuden beſtuͤnde. Achzigjaͤhrige Geſund-
heit, reiche Kapitale, maͤchtige Freunde, Gelehrſamkeit, Gluͤck
und Anſehn: das waͤre etwa der Maimonat, in welchem ich mein
Leben zubringen wolte. Aber Thorheit!
Das Feld kan ohne Ungeſtuͤm
Gar keine Fruͤchte tragen:
So faͤlt auch Menſchen Wohlfart um
Bei lauter guten Tagen.
Bei langen Fruͤhlingsſchickſalen verhungert die Seele. Stuͤr-
me muͤſſen die Faͤulniß verjagen, und die Kraͤfte der Wurzeln
pruͤfen. Es gab niemals groſſe Menſchen in der Welt, die nicht
gelitten haͤtten. Helden duͤrfen keine Witterung, und Chriſten
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 299[329]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/336>, abgerufen am 03.07.2024.
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