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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 13te Mai.
Jst unser Leben schon so froh und schön auf Erden:
Wie schön und froh wird es nicht einst im Himmel werden!


Schön ist die Musik, welche jetzt von allen Zweigen, und
aus allen Gebüschen hervortönt: aber das alles ist doch nur
ein Gezwitscher gegen die harmonische und melodische Tonkunst
der Menschen. Der Virtuose unter den gesiederten Sängern,
die Nachtigall schmettert einen schönen unförmlichen Schall, der
so wenig einen bestimten Ton hat, als Trommeln, Wasserfälle,
Schellen oder Hammerschläge. Nur der Mensch denkt bei seines
Musik, und mißt nach wohl überlegten Regeln und Verhältnis-
sen seine Töne ab. Seine Stimme, zumal wenn Kunst und
Natur dabei wetteifern, übertrift den Gesang aller Vögel an
Wohllaut und Zärtlichkeit. Auf Blaseinstrumenten erhebt er das
Herz, und wenn er fertig die Saiten rührt, so schmilzt er für
Wollust. Die Musik des Waldes verhält sich gegen den Kon-
zertsaal, wie ein Eichenwald gegen einen königlichen Garten.
Beide haben ihr angenehmes: nur bei letzterm läßt sich mehr ge-
denken; und denken ist doch das würdigste und angenehmste für
Menschen?

Die Musik zeuget von folgenden zwo wichtige Warheiten:
von der Fähigkeit des Menschen, und von der grossen Güte Got-
tes. Keine Wissenschaft, keine Verrichtung setzet die Seele in
eine solche Bewegung, und strenget sie in kurzer Zeit so sehr an,
als es der Generalbaß bei einem schweren Konzerte thut. Die
schnelle Behendigkeit unsrer Finger wäre uns unglaublich, wenn
wir ihrer nicht an fertigen Tonkünstlern gewahr würden. Nur sie
verstehen die Kunst, eine Sekunde in vier und sechzig gleiche Theil-
chen zu theilen. Musik, Malerei und Dichtkunst, diese ver-

schwi-
S 3


Der 13te Mai.
Jſt unſer Leben ſchon ſo froh und ſchoͤn auf Erden:
Wie ſchoͤn und froh wird es nicht einſt im Himmel werden!


Schoͤn iſt die Muſik, welche jetzt von allen Zweigen, und
aus allen Gebuͤſchen hervortoͤnt: aber das alles iſt doch nur
ein Gezwitſcher gegen die harmoniſche und melodiſche Tonkunſt
der Menſchen. Der Virtuoſe unter den geſiederten Saͤngern,
die Nachtigall ſchmettert einen ſchoͤnen unfoͤrmlichen Schall, der
ſo wenig einen beſtimten Ton hat, als Trommeln, Waſſerfaͤlle,
Schellen oder Hammerſchlaͤge. Nur der Menſch denkt bei ſeines
Muſik, und mißt nach wohl uͤberlegten Regeln und Verhaͤltniſ-
ſen ſeine Toͤne ab. Seine Stimme, zumal wenn Kunſt und
Natur dabei wetteifern, uͤbertrift den Geſang aller Voͤgel an
Wohllaut und Zaͤrtlichkeit. Auf Blaſeinſtrumenten erhebt er das
Herz, und wenn er fertig die Saiten ruͤhrt, ſo ſchmilzt er fuͤr
Wolluſt. Die Muſik des Waldes verhaͤlt ſich gegen den Kon-
zertſaal, wie ein Eichenwald gegen einen koͤniglichen Garten.
Beide haben ihr angenehmes: nur bei letzterm laͤßt ſich mehr ge-
denken; und denken iſt doch das wuͤrdigſte und angenehmſte fuͤr
Menſchen?

Die Muſik zeuget von folgenden zwo wichtige Warheiten:
von der Faͤhigkeit des Menſchen, und von der groſſen Guͤte Got-
tes. Keine Wiſſenſchaft, keine Verrichtung ſetzet die Seele in
eine ſolche Bewegung, und ſtrenget ſie in kurzer Zeit ſo ſehr an,
als es der Generalbaß bei einem ſchweren Konzerte thut. Die
ſchnelle Behendigkeit unſrer Finger waͤre uns unglaublich, wenn
wir ihrer nicht an fertigen Tonkuͤnſtlern gewahr wuͤrden. Nur ſie
verſtehen die Kunſt, eine Sekunde in vier und ſechzig gleiche Theil-
chen zu theilen. Muſik, Malerei und Dichtkunſt, dieſe ver-

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S 3
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[277[307]/0314] Der 13te Mai. Jſt unſer Leben ſchon ſo froh und ſchoͤn auf Erden: Wie ſchoͤn und froh wird es nicht einſt im Himmel werden! Schoͤn iſt die Muſik, welche jetzt von allen Zweigen, und aus allen Gebuͤſchen hervortoͤnt: aber das alles iſt doch nur ein Gezwitſcher gegen die harmoniſche und melodiſche Tonkunſt der Menſchen. Der Virtuoſe unter den geſiederten Saͤngern, die Nachtigall ſchmettert einen ſchoͤnen unfoͤrmlichen Schall, der ſo wenig einen beſtimten Ton hat, als Trommeln, Waſſerfaͤlle, Schellen oder Hammerſchlaͤge. Nur der Menſch denkt bei ſeines Muſik, und mißt nach wohl uͤberlegten Regeln und Verhaͤltniſ- ſen ſeine Toͤne ab. Seine Stimme, zumal wenn Kunſt und Natur dabei wetteifern, uͤbertrift den Geſang aller Voͤgel an Wohllaut und Zaͤrtlichkeit. Auf Blaſeinſtrumenten erhebt er das Herz, und wenn er fertig die Saiten ruͤhrt, ſo ſchmilzt er fuͤr Wolluſt. Die Muſik des Waldes verhaͤlt ſich gegen den Kon- zertſaal, wie ein Eichenwald gegen einen koͤniglichen Garten. Beide haben ihr angenehmes: nur bei letzterm laͤßt ſich mehr ge- denken; und denken iſt doch das wuͤrdigſte und angenehmſte fuͤr Menſchen? Die Muſik zeuget von folgenden zwo wichtige Warheiten: von der Faͤhigkeit des Menſchen, und von der groſſen Guͤte Got- tes. Keine Wiſſenſchaft, keine Verrichtung ſetzet die Seele in eine ſolche Bewegung, und ſtrenget ſie in kurzer Zeit ſo ſehr an, als es der Generalbaß bei einem ſchweren Konzerte thut. Die ſchnelle Behendigkeit unſrer Finger waͤre uns unglaublich, wenn wir ihrer nicht an fertigen Tonkuͤnſtlern gewahr wuͤrden. Nur ſie verſtehen die Kunſt, eine Sekunde in vier und ſechzig gleiche Theil- chen zu theilen. Muſik, Malerei und Dichtkunſt, dieſe ver- ſchwi- S 3

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 277[307]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/314>, abgerufen am 21.11.2024.