Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 4te Mai.
Gib, daß ich als ein Kind dich liebe,
Da du mich als ein Vater liebst.
Und so gesinnt zu seyn mich übe,
Wie du mir dazu Vorschrift giebst.
Was dir gefält, gefall auch mir:
Nichts scheide mich, mein Gott! von dir.


Die reinste Quelle der Tugenden muß ich aufsuchen:
sonst sind sie für Fleisch und Blut eine schwere Last. War-
um soll ich denn ihr Joch auf mich nehmen? Etwa des Beifalls
der Welt wegen? Aber der ist von geringem Werth, und Sün-
der haben ihre Lobredner auch. Aus Furcht vor Strafen? Aber
dann werde ich knechtisch und schüchtern leben. Aus Gehorsam
gegen Eltern und Lehrer? Ja! wenn sie mich auch nur unterstü-
tzen könten! Und nach ihrem Tode wäre ich doch mein eigner
Herr. Soll ich aus Gewohnheit fromm seyn? Ach! das ist un-
möglich; denn mancher Tugenden werde ich gar nicht gewohnt.
Nun denn aus irdischem Eigennutz? Wir wollen sehen.

Jch werde also bei der Tugend alt werden: aber meine Lei-
denschaften sagen: kurzes und frohes Leben sey besser, als melan-
cholisches Alter. Jch werde reich werden: ja! wenn nicht täglich
Betrieger und Schmeichler grosses Vermögen an sich brächten,
und Tugendhafte darbten! Die Tugend bewahret für Strafen
der Obrigkeit: aber die gröbsten Verbrecher wissen ihnen zu ent-
gehen. Ehre: o! der grosse Haufen betet nur Laster an. Glück
meiner Erben: aber meine Leidenschaften sind meine Schooßkin-
der. Ruhiges Gewissen! Schön! aber ein schlafendes ist für

dieses
R 2


Der 4te Mai.
Gib, daß ich als ein Kind dich liebe,
Da du mich als ein Vater liebſt.
Und ſo geſinnt zu ſeyn mich uͤbe,
Wie du mir dazu Vorſchrift giebſt.
Was dir gefaͤlt, gefall auch mir:
Nichts ſcheide mich, mein Gott! von dir.


Die reinſte Quelle der Tugenden muß ich aufſuchen:
ſonſt ſind ſie fuͤr Fleiſch und Blut eine ſchwere Laſt. War-
um ſoll ich denn ihr Joch auf mich nehmen? Etwa des Beifalls
der Welt wegen? Aber der iſt von geringem Werth, und Suͤn-
der haben ihre Lobredner auch. Aus Furcht vor Strafen? Aber
dann werde ich knechtiſch und ſchuͤchtern leben. Aus Gehorſam
gegen Eltern und Lehrer? Ja! wenn ſie mich auch nur unterſtuͤ-
tzen koͤnten! Und nach ihrem Tode waͤre ich doch mein eigner
Herr. Soll ich aus Gewohnheit fromm ſeyn? Ach! das iſt un-
moͤglich; denn mancher Tugenden werde ich gar nicht gewohnt.
Nun denn aus irdiſchem Eigennutz? Wir wollen ſehen.

Jch werde alſo bei der Tugend alt werden: aber meine Lei-
denſchaften ſagen: kurzes und frohes Leben ſey beſſer, als melan-
choliſches Alter. Jch werde reich werden: ja! wenn nicht taͤglich
Betrieger und Schmeichler groſſes Vermoͤgen an ſich braͤchten,
und Tugendhafte darbten! Die Tugend bewahret fuͤr Strafen
der Obrigkeit: aber die groͤbſten Verbrecher wiſſen ihnen zu ent-
gehen. Ehre: o! der groſſe Haufen betet nur Laſter an. Gluͤck
meiner Erben: aber meine Leidenſchaften ſind meine Schooßkin-
der. Ruhiges Gewiſſen! Schoͤn! aber ein ſchlafendes iſt fuͤr

dieſes
R 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0296" n="259[289]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 4<hi rendition="#sup">te</hi> Mai.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">G</hi>ib, daß ich als ein Kind dich liebe,</l><lb/>
              <l>Da du mich als ein Vater lieb&#x017F;t.</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;o ge&#x017F;innt zu &#x017F;eyn mich u&#x0364;be,</l><lb/>
              <l>Wie du mir dazu Vor&#x017F;chrift gieb&#x017F;t.</l><lb/>
              <l>Was dir gefa&#x0364;lt, gefall auch mir:</l><lb/>
              <l>Nichts &#x017F;cheide mich, mein Gott! von dir.</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi><hi rendition="#fr">ie rein&#x017F;te Quelle der Tugenden</hi> muß ich auf&#x017F;uchen:<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t &#x017F;ind &#x017F;ie fu&#x0364;r Flei&#x017F;ch und Blut eine &#x017F;chwere La&#x017F;t. War-<lb/>
um &#x017F;oll ich denn ihr Joch auf mich nehmen? Etwa des Beifalls<lb/>
der Welt wegen? Aber der i&#x017F;t von geringem Werth, und Su&#x0364;n-<lb/>
der haben ihre Lobredner auch. Aus Furcht vor Strafen? Aber<lb/>
dann werde ich knechti&#x017F;ch und &#x017F;chu&#x0364;chtern leben. Aus Gehor&#x017F;am<lb/>
gegen Eltern und Lehrer? Ja! wenn &#x017F;ie mich auch nur unter&#x017F;tu&#x0364;-<lb/>
tzen ko&#x0364;nten! Und nach ihrem Tode wa&#x0364;re ich doch mein eigner<lb/>
Herr. Soll ich aus Gewohnheit fromm &#x017F;eyn? Ach! das i&#x017F;t un-<lb/>
mo&#x0364;glich; denn mancher Tugenden werde ich gar nicht gewohnt.<lb/>
Nun denn aus irdi&#x017F;chem Eigennutz? Wir wollen &#x017F;ehen.</p><lb/>
            <p>Jch werde al&#x017F;o bei der Tugend alt werden: aber meine Lei-<lb/>
den&#x017F;chaften &#x017F;agen: kurzes und frohes Leben &#x017F;ey be&#x017F;&#x017F;er, als melan-<lb/>
choli&#x017F;ches Alter. Jch werde reich werden: ja! wenn nicht ta&#x0364;glich<lb/>
Betrieger und Schmeichler gro&#x017F;&#x017F;es Vermo&#x0364;gen an &#x017F;ich bra&#x0364;chten,<lb/>
und Tugendhafte darbten! Die Tugend bewahret fu&#x0364;r Strafen<lb/>
der Obrigkeit: aber die gro&#x0364;b&#x017F;ten Verbrecher wi&#x017F;&#x017F;en ihnen zu ent-<lb/>
gehen. Ehre: o! der gro&#x017F;&#x017F;e Haufen betet nur La&#x017F;ter an. Glu&#x0364;ck<lb/>
meiner Erben: aber meine Leiden&#x017F;chaften &#x017F;ind meine Schooßkin-<lb/>
der. Ruhiges Gewi&#x017F;&#x017F;en! Scho&#x0364;n! aber ein &#x017F;chlafendes i&#x017F;t fu&#x0364;r<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">R 2</fw><fw place="bottom" type="catch">die&#x017F;es</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[259[289]/0296] Der 4te Mai. Gib, daß ich als ein Kind dich liebe, Da du mich als ein Vater liebſt. Und ſo geſinnt zu ſeyn mich uͤbe, Wie du mir dazu Vorſchrift giebſt. Was dir gefaͤlt, gefall auch mir: Nichts ſcheide mich, mein Gott! von dir. Die reinſte Quelle der Tugenden muß ich aufſuchen: ſonſt ſind ſie fuͤr Fleiſch und Blut eine ſchwere Laſt. War- um ſoll ich denn ihr Joch auf mich nehmen? Etwa des Beifalls der Welt wegen? Aber der iſt von geringem Werth, und Suͤn- der haben ihre Lobredner auch. Aus Furcht vor Strafen? Aber dann werde ich knechtiſch und ſchuͤchtern leben. Aus Gehorſam gegen Eltern und Lehrer? Ja! wenn ſie mich auch nur unterſtuͤ- tzen koͤnten! Und nach ihrem Tode waͤre ich doch mein eigner Herr. Soll ich aus Gewohnheit fromm ſeyn? Ach! das iſt un- moͤglich; denn mancher Tugenden werde ich gar nicht gewohnt. Nun denn aus irdiſchem Eigennutz? Wir wollen ſehen. Jch werde alſo bei der Tugend alt werden: aber meine Lei- denſchaften ſagen: kurzes und frohes Leben ſey beſſer, als melan- choliſches Alter. Jch werde reich werden: ja! wenn nicht taͤglich Betrieger und Schmeichler groſſes Vermoͤgen an ſich braͤchten, und Tugendhafte darbten! Die Tugend bewahret fuͤr Strafen der Obrigkeit: aber die groͤbſten Verbrecher wiſſen ihnen zu ent- gehen. Ehre: o! der groſſe Haufen betet nur Laſter an. Gluͤck meiner Erben: aber meine Leidenſchaften ſind meine Schooßkin- der. Ruhiges Gewiſſen! Schoͤn! aber ein ſchlafendes iſt fuͤr dieſes R 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/296
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 259[289]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/296>, abgerufen am 30.12.2024.