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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 4te April.
Würd ich vor deinem Tisch,
Wo ich voll Andacht stehe,
Je Sünden [unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]ohl begehn,
Die ich sonst oft begehe?


Keine Zusammenkunft von Menschen ist ehrwürdiger, und komt
dem Stande der Unschuld näher, als eine Versamlung von
Kommunikanten. Ohne Neid, ohne Verläumdung und eigennü-
tzige Absichten stehen sie neben einander da, wie sie einst am gros-
sen Gerichtstage vor Gott stehen werden. Der Vornehme ver-
gißt seines Standes, der Gelehrte seiner Weisheit, der Geringe
seiner Noth. Keiner von ihnen ist mehr als der andre, jeder
ist -- ein Sünder. Der Knecht hat nur hier die Ehre und den
Trost, durch die Würde des heiligen Abendmals seine
eigne zu fühlen, und an die vornehmste Tafel mit seinem Herrn
zugleich gezogen zu werden. Hier lernt, nach Jesu gütiger Ab-
sicht auch der Arme die hohe Gabe Gottes, den Wein, dankbar
kennen, und wird nach Leib und Seele erquickt. Behielten alle
Kommunikanten diese selige Richtung des Gemüths, diese brü-
derliche Eincracht, ehrerbietige Herablassung gegen einander, diese
Stille des Geistes, der sich hier über alle Kleinigkeiten und hef-
tige Leidenschaften wegsetzt: sagt, Ehristen! wäret ihr nicht ein
Wunder vor allen Völkern? Niemals ist der Mensch mehr Mensch
und weniger Thier, als an dieser heiligen Stäte.

Erwegung des Todes Jesu; Bereuung aller Sünden; Er-
hebung des Gemüths zu einer Handlung, welche so überirdisch,
und von jenem Leben ein kleiner Vorschmack ist; Scham, Demut,
tedliche Entschlüsse, Hofnung, von Gott gewürkte sanfte Em-
pfindungen, nach erhaltner Vergebung der Sünden: wo ist irgend

der
N 3


Der 4te April.
Wuͤrd ich vor deinem Tiſch,
Wo ich voll Andacht ſtehe,
Je Suͤnden [unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]ohl begehn,
Die ich ſonſt oft begehe?


Keine Zuſammenkunft von Menſchen iſt ehrwuͤrdiger, und komt
dem Stande der Unſchuld naͤher, als eine Verſamlung von
Kommunikanten. Ohne Neid, ohne Verlaͤumdung und eigennuͤ-
tzige Abſichten ſtehen ſie neben einander da, wie ſie einſt am groſ-
ſen Gerichtstage vor Gott ſtehen werden. Der Vornehme ver-
gißt ſeines Standes, der Gelehrte ſeiner Weisheit, der Geringe
ſeiner Noth. Keiner von ihnen iſt mehr als der andre, jeder
iſt — ein Suͤnder. Der Knecht hat nur hier die Ehre und den
Troſt, durch die Wuͤrde des heiligen Abendmals ſeine
eigne zu fuͤhlen, und an die vornehmſte Tafel mit ſeinem Herrn
zugleich gezogen zu werden. Hier lernt, nach Jeſu guͤtiger Ab-
ſicht auch der Arme die hohe Gabe Gottes, den Wein, dankbar
kennen, und wird nach Leib und Seele erquickt. Behielten alle
Kommunikanten dieſe ſelige Richtung des Gemuͤths, dieſe bruͤ-
derliche Eincracht, ehrerbietige Herablaſſung gegen einander, dieſe
Stille des Geiſtes, der ſich hier uͤber alle Kleinigkeiten und hef-
tige Leidenſchaften wegſetzt: ſagt, Ehriſten! waͤret ihr nicht ein
Wunder vor allen Voͤlkern? Niemals iſt der Menſch mehr Menſch
und weniger Thier, als an dieſer heiligen Staͤte.

Erwegung des Todes Jeſu; Bereuung aller Suͤnden; Er-
hebung des Gemuͤths zu einer Handlung, welche ſo uͤberirdiſch,
und von jenem Leben ein kleiner Vorſchmack iſt; Scham, Demut,
tedliche Entſchluͤſſe, Hofnung, von Gott gewuͤrkte ſanfte Em-
pfindungen, nach erhaltner Vergebung der Suͤnden: wo iſt irgend

der
N 3
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[197[227]/0234] Der 4te April. Wuͤrd ich vor deinem Tiſch, Wo ich voll Andacht ſtehe, Je Suͤnden _ohl begehn, Die ich ſonſt oft begehe? Keine Zuſammenkunft von Menſchen iſt ehrwuͤrdiger, und komt dem Stande der Unſchuld naͤher, als eine Verſamlung von Kommunikanten. Ohne Neid, ohne Verlaͤumdung und eigennuͤ- tzige Abſichten ſtehen ſie neben einander da, wie ſie einſt am groſ- ſen Gerichtstage vor Gott ſtehen werden. Der Vornehme ver- gißt ſeines Standes, der Gelehrte ſeiner Weisheit, der Geringe ſeiner Noth. Keiner von ihnen iſt mehr als der andre, jeder iſt — ein Suͤnder. Der Knecht hat nur hier die Ehre und den Troſt, durch die Wuͤrde des heiligen Abendmals ſeine eigne zu fuͤhlen, und an die vornehmſte Tafel mit ſeinem Herrn zugleich gezogen zu werden. Hier lernt, nach Jeſu guͤtiger Ab- ſicht auch der Arme die hohe Gabe Gottes, den Wein, dankbar kennen, und wird nach Leib und Seele erquickt. Behielten alle Kommunikanten dieſe ſelige Richtung des Gemuͤths, dieſe bruͤ- derliche Eincracht, ehrerbietige Herablaſſung gegen einander, dieſe Stille des Geiſtes, der ſich hier uͤber alle Kleinigkeiten und hef- tige Leidenſchaften wegſetzt: ſagt, Ehriſten! waͤret ihr nicht ein Wunder vor allen Voͤlkern? Niemals iſt der Menſch mehr Menſch und weniger Thier, als an dieſer heiligen Staͤte. Erwegung des Todes Jeſu; Bereuung aller Suͤnden; Er- hebung des Gemuͤths zu einer Handlung, welche ſo uͤberirdiſch, und von jenem Leben ein kleiner Vorſchmack iſt; Scham, Demut, tedliche Entſchluͤſſe, Hofnung, von Gott gewuͤrkte ſanfte Em- pfindungen, nach erhaltner Vergebung der Suͤnden: wo iſt irgend der N 3

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 197[227]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/234>, abgerufen am 21.11.2024.