Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 18te Februar
Gott sah von aller Ewigkeit,
Wie viel mir nützen würde;
Bestimmte meine Lebenszeit,
Mein Glück und meine Bürde.


Herr! wer kan merken, wie oft du ihm wohlthust! Und doch
wünschte ich, daß ich dir; mein Gott! alle Wohlthaten,
die ich von dir empfieng, schon in diesem Leben verdanken könte!
Aber ich kenne ihrer nicht den tausenden Theil. Indessen will ich
es mir zum unverbrüchlichen Gesetz machen, so weit meine Ein-
sichten reichen, alles mit Danksagung zu empfahen. Dank für
das Jahrhundert, darin ich lebe,
soll mich jetzt, bis ich
einschlafe, beschäftigen.

Unter gesitteten Völkern, und in einem Jahrbundert gebo-
ren zu seyn, wo Verstand, Künste und sonderlich die Religion
aufgeklärter und verbreiteter sind, als jemals: das ist ein Ge-
schenk von der gutigen Vorsicht, welches kaum Einer unter Tau-
senden schätzt. Unter welchen glücklichen Umständen wandle ich
nicht auf meiner Wallfarth! Wie? wenn mich Gott in ein Land
angesetzt hätte, wo viehische Menschen und Raubthiere, unter
einander gemischt, leben? Wo diese beide Gattungen sich so öhn-
lich sind, daß man ihre Stimmen und Bekleidung, ihre Woh-
nungen, oder vielmehr ihre Gruben und Felsenklüfte kaum von
einander unterscheiden kan! Oder wie? wenn mich mein Schö-
pfer zwar in meinen jetzigen Boden hingepflanzt hätte, aber so,
daß ich etliche hundert oder tausend Jahre früher geboren wäre!
In jenen dunkeln Zeiten, wo Gärten, Konzerte, Bücher u. s. w.
fast ein Unding waren; wo man leichter, auch in unserm Va-
terlande, Bären oder Wölfen aufstieß, als daß man einem ver-

nünftigen
G 3


Der 18te Februar
Gott ſah von aller Ewigkeit,
Wie viel mir nuͤtzen wuͤrde;
Beſtimmte meine Lebenszeit,
Mein Gluͤck und meine Buͤrde.


Herr! wer kan merken, wie oft du ihm wohlthuſt! Und doch
wuͤnſchte ich, daß ich dir; mein Gott! alle Wohlthaten,
die ich von dir empfieng, ſchon in dieſem Leben verdanken koͤnte!
Aber ich kenne ihrer nicht den tauſenden Theil. Indeſſen will ich
es mir zum unverbruͤchlichen Geſetz machen, ſo weit meine Ein-
ſichten reichen, alles mit Dankſagung zu empfahen. Dank fuͤr
das Jahrhundert, darin ich lebe,
ſoll mich jetzt, bis ich
einſchlafe, beſchaͤftigen.

Unter geſitteten Voͤlkern, und in einem Jahrbundert gebo-
ren zu ſeyn, wo Verſtand, Kuͤnſte und ſonderlich die Religion
aufgeklaͤrter und verbreiteter ſind, als jemals: das iſt ein Ge-
ſchenk von der gutigen Vorſicht, welches kaum Einer unter Tau-
ſenden ſchaͤtzt. Unter welchen gluͤcklichen Umſtaͤnden wandle ich
nicht auf meiner Wallfarth! Wie? wenn mich Gott in ein Land
angeſetzt haͤtte, wo viehiſche Menſchen und Raubthiere, unter
einander gemiſcht, leben? Wo dieſe beide Gattungen ſich ſo oͤhn-
lich ſind, daß man ihre Stimmen und Bekleidung, ihre Woh-
nungen, oder vielmehr ihre Gruben und Felſenkluͤfte kaum von
einander unterſcheiden kan! Oder wie? wenn mich mein Schoͤ-
pfer zwar in meinen jetzigen Boden hingepflanzt haͤtte, aber ſo,
daß ich etliche hundert oder tauſend Jahre fruͤher geboren waͤre!
In jenen dunkeln Zeiten, wo Gaͤrten, Konzerte, Buͤcher u. ſ. w.
faſt ein Unding waren; wo man leichter, auch in unſerm Va-
terlande, Baͤren oder Woͤlfen aufſtieß, als daß man einem ver-

nuͤnftigen
G 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0138" n="101[131]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head>Der 18<hi rendition="#sup">te</hi> Februar</head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">G</hi>ott &#x017F;ah von aller Ewigkeit,</l><lb/>
              <l>Wie viel mir nu&#x0364;tzen wu&#x0364;rde;</l><lb/>
              <l>Be&#x017F;timmte meine Lebenszeit,</l><lb/>
              <l>Mein Glu&#x0364;ck und meine Bu&#x0364;rde.</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">H</hi>err! wer kan merken, wie oft du ihm wohlthu&#x017F;t! Und doch<lb/>
wu&#x0364;n&#x017F;chte ich, daß ich dir; mein Gott! alle Wohlthaten,<lb/>
die ich von dir empfieng, &#x017F;chon in die&#x017F;em Leben verdanken ko&#x0364;nte!<lb/>
Aber ich kenne ihrer nicht den tau&#x017F;enden Theil. Inde&#x017F;&#x017F;en will ich<lb/>
es mir zum unverbru&#x0364;chlichen Ge&#x017F;etz machen, &#x017F;o weit meine Ein-<lb/>
&#x017F;ichten reichen, alles mit Dank&#x017F;agung zu empfahen. <hi rendition="#fr">Dank fu&#x0364;r<lb/>
das Jahrhundert, darin ich lebe,</hi> &#x017F;oll mich jetzt, bis ich<lb/>
ein&#x017F;chlafe, be&#x017F;cha&#x0364;ftigen.</p><lb/>
            <p>Unter ge&#x017F;itteten Vo&#x0364;lkern, und in einem Jahrbundert gebo-<lb/>
ren zu &#x017F;eyn, wo Ver&#x017F;tand, Ku&#x0364;n&#x017F;te und &#x017F;onderlich die Religion<lb/>
aufgekla&#x0364;rter und verbreiteter &#x017F;ind, als jemals: das i&#x017F;t ein Ge-<lb/>
&#x017F;chenk von der gutigen Vor&#x017F;icht, welches kaum Einer unter Tau-<lb/>
&#x017F;enden &#x017F;cha&#x0364;tzt. Unter welchen glu&#x0364;cklichen Um&#x017F;ta&#x0364;nden wandle ich<lb/>
nicht auf meiner Wallfarth! Wie? wenn mich Gott in ein Land<lb/>
ange&#x017F;etzt ha&#x0364;tte, wo viehi&#x017F;che Men&#x017F;chen und Raubthiere, unter<lb/>
einander gemi&#x017F;cht, leben? Wo die&#x017F;e beide Gattungen &#x017F;ich &#x017F;o o&#x0364;hn-<lb/>
lich &#x017F;ind, daß man ihre Stimmen und Bekleidung, ihre Woh-<lb/>
nungen, oder vielmehr ihre Gruben und Fel&#x017F;enklu&#x0364;fte kaum von<lb/>
einander unter&#x017F;cheiden kan! Oder wie? wenn mich mein Scho&#x0364;-<lb/>
pfer zwar in meinen jetzigen Boden hingepflanzt ha&#x0364;tte, aber &#x017F;o,<lb/>
daß ich etliche hundert oder tau&#x017F;end Jahre fru&#x0364;her geboren wa&#x0364;re!<lb/>
In jenen dunkeln Zeiten, wo Ga&#x0364;rten, Konzerte, Bu&#x0364;cher u. &#x017F;. w.<lb/>
fa&#x017F;t ein Unding waren; wo man leichter, auch in un&#x017F;erm Va-<lb/>
terlande, Ba&#x0364;ren oder Wo&#x0364;lfen auf&#x017F;tieß, als daß man einem ver-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 3</fw><fw place="bottom" type="catch">nu&#x0364;nftigen</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101[131]/0138] Der 18te Februar Gott ſah von aller Ewigkeit, Wie viel mir nuͤtzen wuͤrde; Beſtimmte meine Lebenszeit, Mein Gluͤck und meine Buͤrde. Herr! wer kan merken, wie oft du ihm wohlthuſt! Und doch wuͤnſchte ich, daß ich dir; mein Gott! alle Wohlthaten, die ich von dir empfieng, ſchon in dieſem Leben verdanken koͤnte! Aber ich kenne ihrer nicht den tauſenden Theil. Indeſſen will ich es mir zum unverbruͤchlichen Geſetz machen, ſo weit meine Ein- ſichten reichen, alles mit Dankſagung zu empfahen. Dank fuͤr das Jahrhundert, darin ich lebe, ſoll mich jetzt, bis ich einſchlafe, beſchaͤftigen. Unter geſitteten Voͤlkern, und in einem Jahrbundert gebo- ren zu ſeyn, wo Verſtand, Kuͤnſte und ſonderlich die Religion aufgeklaͤrter und verbreiteter ſind, als jemals: das iſt ein Ge- ſchenk von der gutigen Vorſicht, welches kaum Einer unter Tau- ſenden ſchaͤtzt. Unter welchen gluͤcklichen Umſtaͤnden wandle ich nicht auf meiner Wallfarth! Wie? wenn mich Gott in ein Land angeſetzt haͤtte, wo viehiſche Menſchen und Raubthiere, unter einander gemiſcht, leben? Wo dieſe beide Gattungen ſich ſo oͤhn- lich ſind, daß man ihre Stimmen und Bekleidung, ihre Woh- nungen, oder vielmehr ihre Gruben und Felſenkluͤfte kaum von einander unterſcheiden kan! Oder wie? wenn mich mein Schoͤ- pfer zwar in meinen jetzigen Boden hingepflanzt haͤtte, aber ſo, daß ich etliche hundert oder tauſend Jahre fruͤher geboren waͤre! In jenen dunkeln Zeiten, wo Gaͤrten, Konzerte, Buͤcher u. ſ. w. faſt ein Unding waren; wo man leichter, auch in unſerm Va- terlande, Baͤren oder Woͤlfen aufſtieß, als daß man einem ver- nuͤnftigen G 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/138
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 101[131]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/138>, abgerufen am 30.12.2024.