Mich stärke auf der Tugend Pfad Das Beispiel selger Geister; Jhn zeigte mir, und ihn betrat Mein Gott und Herr und Meister. O! laß mich nie des Frechen Spott Auf diesem Pfade hindern: Mein wahrer Ruhm ist bei dir, Gott! Und nicht bey Menschenkindern.
Wolten wir ja die Wahl zwischen Tugend und Laster, nicht nach ihrem innern Gehalt, sondern nach Bei- spielen anstellen: so würde doch auch alsdann jene liebenswür- dig, dieses verabscheuungswerth seyn. Wer sind die Unglückli- chen, welche witzig oder wie Sirenen zur Sünde locken, und die Tugend verdächtig machen? Eine genauere Bekantschaft mit ihnen verekelt uns bald ihren Wandel. Jst ihre Lieb- lingsleidenschaft in Aufruhr, so kennen sie keine Mittelstrasse, uud beweisen, daß sie Sklaven ihrer Lüste sind. Sie lachen viel, aber andre müssen darunter leiden und weinen. Wenn der Geizige lächelt, so hat er gemeiniglich betrogen; und wo der Wollüstige jauchzet, da muß die Unschuld ihr Gesicht ver- bergen. Man nehme ein Laster, welches man wolle, so leidet man es nicht gern an seinen Bedienten: und es sollte in meinem Herzen regieren? Gesetzt aber, daß Lasterhafte bei guten Ta- gen lustig, geehrt und witzig seyn; so ist es doch bekant genug, was sie im hohen Alter, bei Unglücksfällen und sonderlich im Tode für elende Rollen spielen. Jm Sonnenschein schwär- men, und beim Sturm sich verkriechen: das heißt Jnsekten und Gewürm nachahmen. Ein Vernünftiger besorgt nicht blos einzelne Theile, sondern das Ganze des Lebens. Jch muß ja auch mit Anstand weinen und sterben können!
Tugend-
Tiedens Abendand. I. Th. F
Der 8te Februar.
Mich ſtaͤrke auf der Tugend Pfad Das Beiſpiel ſelger Geiſter; Jhn zeigte mir, und ihn betrat Mein Gott und Herr und Meiſter. O! laß mich nie des Frechen Spott Auf dieſem Pfade hindern: Mein wahrer Ruhm iſt bei dir, Gott! Und nicht bey Menſchenkindern.
Wolten wir ja die Wahl zwiſchen Tugend und Laſter, nicht nach ihrem innern Gehalt, ſondern nach Bei- ſpielen anſtellen: ſo wuͤrde doch auch alsdann jene liebenswuͤr- dig, dieſes verabſcheuungswerth ſeyn. Wer ſind die Ungluͤckli- chen, welche witzig oder wie Sirenen zur Suͤnde locken, und die Tugend verdaͤchtig machen? Eine genauere Bekantſchaft mit ihnen verekelt uns bald ihren Wandel. Jſt ihre Lieb- lingsleidenſchaft in Aufruhr, ſo kennen ſie keine Mittelſtraſſe, uud beweiſen, daß ſie Sklaven ihrer Luͤſte ſind. Sie lachen viel, aber andre muͤſſen darunter leiden und weinen. Wenn der Geizige laͤchelt, ſo hat er gemeiniglich betrogen; und wo der Wolluͤſtige jauchzet, da muß die Unſchuld ihr Geſicht ver- bergen. Man nehme ein Laſter, welches man wolle, ſo leidet man es nicht gern an ſeinen Bedienten: und es ſollte in meinem Herzen regieren? Geſetzt aber, daß Laſterhafte bei guten Ta- gen luſtig, geehrt und witzig ſeyn; ſo iſt es doch bekant genug, was ſie im hohen Alter, bei Ungluͤcksfaͤllen und ſonderlich im Tode fuͤr elende Rollen ſpielen. Jm Sonnenſchein ſchwaͤr- men, und beim Sturm ſich verkriechen: das heißt Jnſekten und Gewuͤrm nachahmen. Ein Vernuͤnftiger beſorgt nicht blos einzelne Theile, ſondern das Ganze des Lebens. Jch muß ja auch mit Anſtand weinen und ſterben koͤnnen!
Tugend-
Tiedens Abendand. I. Th. F
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0118"n="81[111]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head>Der 8<hirendition="#sup">te</hi> Februar.</head><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#in">M</hi>ich ſtaͤrke auf der Tugend Pfad</l><lb/><l>Das Beiſpiel ſelger Geiſter;</l><lb/><l>Jhn zeigte mir, und ihn betrat</l><lb/><l>Mein Gott und Herr und Meiſter.</l><lb/><l>O! laß mich nie des Frechen Spott</l><lb/><l>Auf dieſem Pfade hindern:</l><lb/><l>Mein wahrer Ruhm iſt bei dir, Gott!</l><lb/><l>Und nicht bey Menſchenkindern.</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">W</hi>olten wir ja die Wahl zwiſchen <hirendition="#fr">Tugend und Laſter,</hi><lb/>
nicht nach ihrem innern Gehalt, ſondern <hirendition="#fr">nach Bei-<lb/>ſpielen</hi> anſtellen: ſo wuͤrde doch auch alsdann jene liebenswuͤr-<lb/>
dig, dieſes verabſcheuungswerth ſeyn. Wer ſind die Ungluͤckli-<lb/>
chen, welche witzig oder wie Sirenen zur Suͤnde locken, und<lb/>
die Tugend verdaͤchtig machen? Eine genauere Bekantſchaft<lb/>
mit ihnen verekelt uns bald ihren Wandel. Jſt ihre Lieb-<lb/>
lingsleidenſchaft in Aufruhr, ſo kennen ſie keine Mittelſtraſſe,<lb/>
uud beweiſen, daß ſie Sklaven ihrer Luͤſte ſind. Sie lachen<lb/>
viel, aber andre muͤſſen darunter leiden und weinen. Wenn<lb/>
der Geizige laͤchelt, ſo hat er gemeiniglich betrogen; und wo<lb/>
der Wolluͤſtige jauchzet, da muß die Unſchuld ihr Geſicht ver-<lb/>
bergen. Man nehme ein Laſter, welches man wolle, ſo leidet<lb/>
man es nicht gern an ſeinen Bedienten: und es ſollte in meinem<lb/>
Herzen regieren? Geſetzt aber, daß Laſterhafte bei guten Ta-<lb/>
gen luſtig, geehrt und witzig ſeyn; ſo iſt es doch bekant genug,<lb/>
was ſie im hohen Alter, bei Ungluͤcksfaͤllen und ſonderlich im<lb/>
Tode fuͤr elende Rollen ſpielen. Jm Sonnenſchein ſchwaͤr-<lb/>
men, und beim Sturm ſich verkriechen: das heißt Jnſekten<lb/>
und Gewuͤrm nachahmen. Ein Vernuͤnftiger beſorgt nicht<lb/>
blos einzelne Theile, ſondern das Ganze des Lebens. Jch<lb/>
muß ja auch mit Anſtand weinen und ſterben koͤnnen!</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">Tiedens Abendand. <hirendition="#aq">I.</hi> Th. F</fw><fwplace="bottom"type="catch">Tugend-</fw><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[81[111]/0118]
Der 8te Februar.
Mich ſtaͤrke auf der Tugend Pfad
Das Beiſpiel ſelger Geiſter;
Jhn zeigte mir, und ihn betrat
Mein Gott und Herr und Meiſter.
O! laß mich nie des Frechen Spott
Auf dieſem Pfade hindern:
Mein wahrer Ruhm iſt bei dir, Gott!
Und nicht bey Menſchenkindern.
Wolten wir ja die Wahl zwiſchen Tugend und Laſter,
nicht nach ihrem innern Gehalt, ſondern nach Bei-
ſpielen anſtellen: ſo wuͤrde doch auch alsdann jene liebenswuͤr-
dig, dieſes verabſcheuungswerth ſeyn. Wer ſind die Ungluͤckli-
chen, welche witzig oder wie Sirenen zur Suͤnde locken, und
die Tugend verdaͤchtig machen? Eine genauere Bekantſchaft
mit ihnen verekelt uns bald ihren Wandel. Jſt ihre Lieb-
lingsleidenſchaft in Aufruhr, ſo kennen ſie keine Mittelſtraſſe,
uud beweiſen, daß ſie Sklaven ihrer Luͤſte ſind. Sie lachen
viel, aber andre muͤſſen darunter leiden und weinen. Wenn
der Geizige laͤchelt, ſo hat er gemeiniglich betrogen; und wo
der Wolluͤſtige jauchzet, da muß die Unſchuld ihr Geſicht ver-
bergen. Man nehme ein Laſter, welches man wolle, ſo leidet
man es nicht gern an ſeinen Bedienten: und es ſollte in meinem
Herzen regieren? Geſetzt aber, daß Laſterhafte bei guten Ta-
gen luſtig, geehrt und witzig ſeyn; ſo iſt es doch bekant genug,
was ſie im hohen Alter, bei Ungluͤcksfaͤllen und ſonderlich im
Tode fuͤr elende Rollen ſpielen. Jm Sonnenſchein ſchwaͤr-
men, und beim Sturm ſich verkriechen: das heißt Jnſekten
und Gewuͤrm nachahmen. Ein Vernuͤnftiger beſorgt nicht
blos einzelne Theile, ſondern das Ganze des Lebens. Jch
muß ja auch mit Anſtand weinen und ſterben koͤnnen!
Tugend-
Tiedens Abendand. I. Th. F
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 81[111]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/118>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.