Vom großen Dom erscholl das vormittägige Ge- läute. Ueber den weiten Platz wandelten in ver- schiedenen Richtungen Männer und Weiber, Wa- gen fuhren vorüber und Priester gingen nach ihren Kirchen. Ferdinand stand auf der breiten Treppe, den Wandelnden nachsehend und diejenigen betrach- tend, welche herauf stiegen, um dem Hochamte beizuwohnen. Der Sonnenschein glänzte auf den weißen Steinen, alles suchte den Schatten gegen die Hitze; nur er stand schon seit lange sinnend an einen Pfeiler gelehnt, in den brennenden Stralen, ohne sie zu fühlen, denn er verlor sich in den Erinnerungen, die in seinem Gedächtnisse aufstie- gen. Er dachte seinem Leben nach, und begeisterte sich an dem Gefühl, welches sein Leben durchdrun- gen und alle andern Wünsche in ihm ausgelöscht hatte. In derselben Stunde stand er hier im vo- rigen Jahre, um Frauen und Mädchen zur Messe kommen zu sehn; mit gleichgültigem Herzen und lächelndem Auge hatte er die mannichfaltigen Ge- stalten betrachtet, mancher holde Blick war ihm schalkhaft begegnet und manche jungfräuliche Wange war erröthet; sein spähendes Auge sah den nied- lichen Füßchen nach, wie sie die Stufen herauf schritten und wie sich das schwebende Gewand mehr oder weniger verschob, um die feinen Knöchel zu
Der Pokal.
Der Pokal.
Vom großen Dom erſcholl das vormittaͤgige Ge- laͤute. Ueber den weiten Platz wandelten in ver- ſchiedenen Richtungen Maͤnner und Weiber, Wa- gen fuhren voruͤber und Prieſter gingen nach ihren Kirchen. Ferdinand ſtand auf der breiten Treppe, den Wandelnden nachſehend und diejenigen betrach- tend, welche herauf ſtiegen, um dem Hochamte beizuwohnen. Der Sonnenſchein glaͤnzte auf den weißen Steinen, alles ſuchte den Schatten gegen die Hitze; nur er ſtand ſchon ſeit lange ſinnend an einen Pfeiler gelehnt, in den brennenden Stralen, ohne ſie zu fuͤhlen, denn er verlor ſich in den Erinnerungen, die in ſeinem Gedaͤchtniſſe aufſtie- gen. Er dachte ſeinem Leben nach, und begeiſterte ſich an dem Gefuͤhl, welches ſein Leben durchdrun- gen und alle andern Wuͤnſche in ihm ausgeloͤſcht hatte. In derſelben Stunde ſtand er hier im vo- rigen Jahre, um Frauen und Maͤdchen zur Meſſe kommen zu ſehn; mit gleichguͤltigem Herzen und laͤchelndem Auge hatte er die mannichfaltigen Ge- ſtalten betrachtet, mancher holde Blick war ihm ſchalkhaft begegnet und manche jungfraͤuliche Wange war erroͤthet; ſein ſpaͤhendes Auge ſah den nied- lichen Fuͤßchen nach, wie ſie die Stufen herauf ſchritten und wie ſich das ſchwebende Gewand mehr oder weniger verſchob, um die feinen Knoͤchel zu
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0442"n="431"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Der Pokal</hi>.</fw><lb/><divn="2"><head><hirendition="#g">Der Pokal</hi>.</head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p><hirendition="#in">V</hi>om großen Dom erſcholl das vormittaͤgige Ge-<lb/>
laͤute. Ueber den weiten Platz wandelten in ver-<lb/>ſchiedenen Richtungen Maͤnner und Weiber, Wa-<lb/>
gen fuhren voruͤber und Prieſter gingen nach ihren<lb/>
Kirchen. Ferdinand ſtand auf der breiten Treppe,<lb/>
den Wandelnden nachſehend und diejenigen betrach-<lb/>
tend, welche herauf ſtiegen, um dem Hochamte<lb/>
beizuwohnen. Der Sonnenſchein glaͤnzte auf den<lb/>
weißen Steinen, alles ſuchte den Schatten gegen<lb/>
die Hitze; nur er ſtand ſchon ſeit lange ſinnend an<lb/>
einen Pfeiler gelehnt, in den brennenden Stralen,<lb/>
ohne ſie zu fuͤhlen, denn er verlor ſich in den<lb/>
Erinnerungen, die in ſeinem Gedaͤchtniſſe aufſtie-<lb/>
gen. Er dachte ſeinem Leben nach, und begeiſterte<lb/>ſich an dem Gefuͤhl, welches ſein Leben durchdrun-<lb/>
gen und alle andern Wuͤnſche in ihm ausgeloͤſcht<lb/>
hatte. In derſelben Stunde ſtand er hier im vo-<lb/>
rigen Jahre, um Frauen und Maͤdchen zur Meſſe<lb/>
kommen zu ſehn; mit gleichguͤltigem Herzen und<lb/>
laͤchelndem Auge hatte er die mannichfaltigen Ge-<lb/>ſtalten betrachtet, mancher holde Blick war ihm<lb/>ſchalkhaft begegnet und manche jungfraͤuliche Wange<lb/>
war erroͤthet; ſein ſpaͤhendes Auge ſah den nied-<lb/>
lichen Fuͤßchen nach, wie ſie die Stufen herauf<lb/>ſchritten und wie ſich das ſchwebende Gewand mehr<lb/>
oder weniger verſchob, um die feinen Knoͤchel zu<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[431/0442]
Der Pokal.
Der Pokal.
Vom großen Dom erſcholl das vormittaͤgige Ge-
laͤute. Ueber den weiten Platz wandelten in ver-
ſchiedenen Richtungen Maͤnner und Weiber, Wa-
gen fuhren voruͤber und Prieſter gingen nach ihren
Kirchen. Ferdinand ſtand auf der breiten Treppe,
den Wandelnden nachſehend und diejenigen betrach-
tend, welche herauf ſtiegen, um dem Hochamte
beizuwohnen. Der Sonnenſchein glaͤnzte auf den
weißen Steinen, alles ſuchte den Schatten gegen
die Hitze; nur er ſtand ſchon ſeit lange ſinnend an
einen Pfeiler gelehnt, in den brennenden Stralen,
ohne ſie zu fuͤhlen, denn er verlor ſich in den
Erinnerungen, die in ſeinem Gedaͤchtniſſe aufſtie-
gen. Er dachte ſeinem Leben nach, und begeiſterte
ſich an dem Gefuͤhl, welches ſein Leben durchdrun-
gen und alle andern Wuͤnſche in ihm ausgeloͤſcht
hatte. In derſelben Stunde ſtand er hier im vo-
rigen Jahre, um Frauen und Maͤdchen zur Meſſe
kommen zu ſehn; mit gleichguͤltigem Herzen und
laͤchelndem Auge hatte er die mannichfaltigen Ge-
ſtalten betrachtet, mancher holde Blick war ihm
ſchalkhaft begegnet und manche jungfraͤuliche Wange
war erroͤthet; ſein ſpaͤhendes Auge ſah den nied-
lichen Fuͤßchen nach, wie ſie die Stufen herauf
ſchritten und wie ſich das ſchwebende Gewand mehr
oder weniger verſchob, um die feinen Knoͤchel zu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/442>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.