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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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22.
William Lovell an Rosa.


Sie fragen mich: wie ich lebe. Ich bin seit
langer Zeit in einer Verfassung, daß ich nicht
ohne Sie leben kann. Ich habe Sie immer
nöthig, um jeden Gedanken und jedes Gefühl
in Ihren Busen auszuschütten. -- Mir ist
jetzt oft zu Muthe als wären Flügel an mei-
ne Brust gewachsen die mich immer höher und
höher heben und durch die ich bald die Erde
mit ihren Armseligkeiten aus den Augen ver-
lieren werde.

Ich sehe jetzt den alten Andrea täglich; ich
habe noch nie einen Menschen mit dieser hohen
Bewunderung betrachtet, ich habe aber auch
noch nie eine Seele angetroffen, die alles, was
sonst schon einzeln die Menschen vortreflich
macht, so in sich vereinigte. Die Erinnerung
macht mir jetzt eine seltsame Empfindung, daß
ich ehedem vor seiner Gestalt zurückschauder-

22.
William Lovell an Roſa.


Sie fragen mich: wie ich lebe. Ich bin ſeit
langer Zeit in einer Verfaſſung, daß ich nicht
ohne Sie leben kann. Ich habe Sie immer
noͤthig, um jeden Gedanken und jedes Gefuͤhl
in Ihren Buſen auszuſchuͤtten. — Mir iſt
jetzt oft zu Muthe als waͤren Fluͤgel an mei-
ne Bruſt gewachſen die mich immer hoͤher und
hoͤher heben und durch die ich bald die Erde
mit ihren Armſeligkeiten aus den Augen ver-
lieren werde.

Ich ſehe jetzt den alten Andrea taͤglich; ich
habe noch nie einen Menſchen mit dieſer hohen
Bewunderung betrachtet, ich habe aber auch
noch nie eine Seele angetroffen, die alles, was
ſonſt ſchon einzeln die Menſchen vortreflich
macht, ſo in ſich vereinigte. Die Erinnerung
macht mir jetzt eine ſeltſame Empfindung, daß
ich ehedem vor ſeiner Geſtalt zuruͤckſchauder-

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[301/0307] 22. William Lovell an Roſa. Rom. Sie fragen mich: wie ich lebe. Ich bin ſeit langer Zeit in einer Verfaſſung, daß ich nicht ohne Sie leben kann. Ich habe Sie immer noͤthig, um jeden Gedanken und jedes Gefuͤhl in Ihren Buſen auszuſchuͤtten. — Mir iſt jetzt oft zu Muthe als waͤren Fluͤgel an mei- ne Bruſt gewachſen die mich immer hoͤher und hoͤher heben und durch die ich bald die Erde mit ihren Armſeligkeiten aus den Augen ver- lieren werde. Ich ſehe jetzt den alten Andrea taͤglich; ich habe noch nie einen Menſchen mit dieſer hohen Bewunderung betrachtet, ich habe aber auch noch nie eine Seele angetroffen, die alles, was ſonſt ſchon einzeln die Menſchen vortreflich macht, ſo in ſich vereinigte. Die Erinnerung macht mir jetzt eine ſeltſame Empfindung, daß ich ehedem vor ſeiner Geſtalt zuruͤckſchauder-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/307>, abgerufen am 21.11.2024.