Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite
2.
Rosa an William Lovell.


Ja wohl, lieber Freund, es ist um die Men-
schen ein seltsames Ding! Ein Räthsel, das
keiner je ganz auflösen wird. Es quält und
ängstigt den Geist; indessen müssen wir wenig-
stens so viel zugeben, daß es ihn eben deswegen
auch beschäfftigt und unterrichtet, wir müssen
uns nur nie scheuen, einen Gedanken ganz zu
Ende zu denken, unbekümmert, wohin er uns
führen könnte. Sie fühlen es jetzt recht leb-
haft, wie alles, was wir wissen und glauben,
Nichts sey, aber bemerken Sie nur auch, wie
Ihre Zweifel und Ihre nüchternen Gefühle, die
daraus entstehen, ebenfalls nichts Festes, Un-
wandelbares sind. -- Alles geht und zieht durch
unsern Busen, alle Eindrücke existiren für uns
nur, in sofern sie ihre Spuren zurück lassen:
aber eben dies sollte uns bewegen, nie ganz
und einzig in der Gegenwart zu leben; denn sie
ist in unsrer Existenz das Unzuverläßigste.

Besuchen Sie mich heut wieder vor dem

2.
Roſa an William Lovell.


Ja wohl, lieber Freund, es iſt um die Men-
ſchen ein ſeltſames Ding! Ein Raͤthſel, das
keiner je ganz aufloͤſen wird. Es quaͤlt und
aͤngſtigt den Geiſt; indeſſen muͤſſen wir wenig-
ſtens ſo viel zugeben, daß es ihn eben deswegen
auch beſchaͤfftigt und unterrichtet, wir muͤſſen
uns nur nie ſcheuen, einen Gedanken ganz zu
Ende zu denken, unbekuͤmmert, wohin er uns
fuͤhren koͤnnte. Sie fuͤhlen es jetzt recht leb-
haft, wie alles, was wir wiſſen und glauben,
Nichts ſey, aber bemerken Sie nur auch, wie
Ihre Zweifel und Ihre nuͤchternen Gefuͤhle, die
daraus entſtehen, ebenfalls nichts Feſtes, Un-
wandelbares ſind. — Alles geht und zieht durch
unſern Buſen, alle Eindruͤcke exiſtiren fuͤr uns
nur, in ſofern ſie ihre Spuren zuruͤck laſſen:
aber eben dies ſollte uns bewegen, nie ganz
und einzig in der Gegenwart zu leben; denn ſie
iſt in unſrer Exiſtenz das Unzuverlaͤßigſte.

Beſuchen Sie mich heut wieder vor dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0220" n="214"/>
        <div n="2">
          <head>2.<lb/><hi rendition="#g">Ro&#x017F;a an William Lovell</hi>.</head><lb/>
          <dateline>
            <placeName> <hi rendition="#right"><hi rendition="#g">Rom</hi>.</hi> </placeName>
          </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">J</hi>a wohl, lieber Freund, es i&#x017F;t um die Men-<lb/>
&#x017F;chen ein &#x017F;elt&#x017F;ames Ding! Ein Ra&#x0364;th&#x017F;el, das<lb/>
keiner je ganz auflo&#x0364;&#x017F;en wird. Es qua&#x0364;lt und<lb/>
a&#x0364;ng&#x017F;tigt den Gei&#x017F;t; inde&#x017F;&#x017F;en mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir wenig-<lb/>
&#x017F;tens &#x017F;o viel zugeben, daß es ihn eben deswegen<lb/>
auch be&#x017F;cha&#x0364;fftigt und unterrichtet, wir mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en<lb/>
uns nur nie &#x017F;cheuen, einen Gedanken ganz zu<lb/>
Ende zu denken, unbeku&#x0364;mmert, wohin er uns<lb/>
fu&#x0364;hren ko&#x0364;nnte. Sie fu&#x0364;hlen es jetzt recht leb-<lb/>
haft, wie alles, was wir wi&#x017F;&#x017F;en und glauben,<lb/>
Nichts &#x017F;ey, aber bemerken Sie nur auch, wie<lb/>
Ihre Zweifel und Ihre nu&#x0364;chternen Gefu&#x0364;hle, die<lb/>
daraus ent&#x017F;tehen, ebenfalls nichts Fe&#x017F;tes, Un-<lb/>
wandelbares &#x017F;ind. &#x2014; Alles geht und zieht durch<lb/>
un&#x017F;ern Bu&#x017F;en, alle Eindru&#x0364;cke exi&#x017F;tiren fu&#x0364;r uns<lb/>
nur, in &#x017F;ofern &#x017F;ie ihre Spuren zuru&#x0364;ck la&#x017F;&#x017F;en:<lb/>
aber eben dies &#x017F;ollte uns bewegen, nie ganz<lb/>
und einzig in der Gegenwart zu leben; denn &#x017F;ie<lb/>
i&#x017F;t in un&#x017F;rer Exi&#x017F;tenz das Unzuverla&#x0364;ßig&#x017F;te.</p><lb/>
          <p>Be&#x017F;uchen Sie mich heut wieder vor dem<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[214/0220] 2. Roſa an William Lovell. Rom. Ja wohl, lieber Freund, es iſt um die Men- ſchen ein ſeltſames Ding! Ein Raͤthſel, das keiner je ganz aufloͤſen wird. Es quaͤlt und aͤngſtigt den Geiſt; indeſſen muͤſſen wir wenig- ſtens ſo viel zugeben, daß es ihn eben deswegen auch beſchaͤfftigt und unterrichtet, wir muͤſſen uns nur nie ſcheuen, einen Gedanken ganz zu Ende zu denken, unbekuͤmmert, wohin er uns fuͤhren koͤnnte. Sie fuͤhlen es jetzt recht leb- haft, wie alles, was wir wiſſen und glauben, Nichts ſey, aber bemerken Sie nur auch, wie Ihre Zweifel und Ihre nuͤchternen Gefuͤhle, die daraus entſtehen, ebenfalls nichts Feſtes, Un- wandelbares ſind. — Alles geht und zieht durch unſern Buſen, alle Eindruͤcke exiſtiren fuͤr uns nur, in ſofern ſie ihre Spuren zuruͤck laſſen: aber eben dies ſollte uns bewegen, nie ganz und einzig in der Gegenwart zu leben; denn ſie iſt in unſrer Exiſtenz das Unzuverlaͤßigſte. Beſuchen Sie mich heut wieder vor dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/220
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/220>, abgerufen am 21.12.2024.