Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität rungssatz, daß es sich so verhalte? Jst nicht vielmehrdie Sehnsucht zur Ruhe in dem Ermüdeten, und der Hang im zunehmenden Alter den Wirkungskreis zu verengern, die Empfindungen zu mindern, der Ge- schäffte sich zu entschlagen, ein positiver Hang sich in ei- nen Zustand minderer Thätigkeit zu setzen? Dieselbige Feder, die sich auszudehnen bestrebet, wenn sie zusam- mengedruckt ist, äußert auch ein Bestreben sich zusam- menzuziehen, wenn sie nämlich vorher völlig entspan- net ist, und dann wie eine Klaviersaite über diese Gren- ze noch weiter herausgezogen wird. Es ist dieselbige Ela- sticität in ihr der Grund von beiden Bestrebungen; aber ohne die Sache einseitig anzusehen, kann die letzter- wähnte Aeußerung der Elasticität, das Bestreben sich zusammenzuziehen kein Ausdehnungstrieb genennet wer- den; oder -- denn was kommt es auf den Namen an? nicht in demselbigen Sinn, mit Rücksicht auf dieselbige Art hervorzugehen, und nicht mit mehrerm Grunde, als er auch ein Zusammenziehungstrieb heißen kann. Noch weniger, meine ich, gehe dieß bey dem menschli- chen Naturtriebe an. Es ist derselbige, der sich anfangs als Entwickelungstrieb, dann auf die entgegengesetzte Weise offenbaret. Er hat dasselbige Princip in der Na- tur zum Grunde, und es mögen auch beide Aeußerun- gen auf einen gemeinschaftlichen generischen Begriff ge- bracht werden können. Aber der Begriff von Entwi- ckelung wird alsdenn zu bestimmt und zu einseitig seyn. 12. So gewiß es ist, daß Kräfte und Vermögen nur let
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt rungsſatz, daß es ſich ſo verhalte? Jſt nicht vielmehrdie Sehnſucht zur Ruhe in dem Ermuͤdeten, und der Hang im zunehmenden Alter den Wirkungskreis zu verengern, die Empfindungen zu mindern, der Ge- ſchaͤffte ſich zu entſchlagen, ein poſitiver Hang ſich in ei- nen Zuſtand minderer Thaͤtigkeit zu ſetzen? Dieſelbige Feder, die ſich auszudehnen beſtrebet, wenn ſie zuſam- mengedruckt iſt, aͤußert auch ein Beſtreben ſich zuſam- menzuziehen, wenn ſie naͤmlich vorher voͤllig entſpan- net iſt, und dann wie eine Klavierſaite uͤber dieſe Gren- ze noch weiter herausgezogen wird. Es iſt dieſelbige Ela- ſticitaͤt in ihr der Grund von beiden Beſtrebungen; aber ohne die Sache einſeitig anzuſehen, kann die letzter- waͤhnte Aeußerung der Elaſticitaͤt, das Beſtreben ſich zuſammenzuziehen kein Ausdehnungstrieb genennet wer- den; oder — denn was kommt es auf den Namen an? nicht in demſelbigen Sinn, mit Ruͤckſicht auf dieſelbige Art hervorzugehen, und nicht mit mehrerm Grunde, als er auch ein Zuſammenziehungstrieb heißen kann. Noch weniger, meine ich, gehe dieß bey dem menſchli- chen Naturtriebe an. Es iſt derſelbige, der ſich anfangs als Entwickelungstrieb, dann auf die entgegengeſetzte Weiſe offenbaret. Er hat daſſelbige Princip in der Na- tur zum Grunde, und es moͤgen auch beide Aeußerun- gen auf einen gemeinſchaftlichen generiſchen Begriff ge- bracht werden koͤnnen. Aber der Begriff von Entwi- ckelung wird alsdenn zu beſtimmt und zu einſeitig ſeyn. 12. So gewiß es iſt, daß Kraͤfte und Vermoͤgen nur let
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
rungsſatz, daß es ſich ſo verhalte? Jſt nicht vielmehr
die Sehnſucht zur Ruhe in dem Ermuͤdeten, und der
Hang im zunehmenden Alter den Wirkungskreis zu
verengern, die Empfindungen zu mindern, der Ge-
ſchaͤffte ſich zu entſchlagen, ein poſitiver Hang ſich in ei-
nen Zuſtand minderer Thaͤtigkeit zu ſetzen? Dieſelbige
Feder, die ſich auszudehnen beſtrebet, wenn ſie zuſam-
mengedruckt iſt, aͤußert auch ein Beſtreben ſich zuſam-
menzuziehen, wenn ſie naͤmlich vorher voͤllig entſpan-
net iſt, und dann wie eine Klavierſaite uͤber dieſe Gren-
ze noch weiter herausgezogen wird. Es iſt dieſelbige Ela-
ſticitaͤt in ihr der Grund von beiden Beſtrebungen; aber
ohne die Sache einſeitig anzuſehen, kann die letzter-
waͤhnte Aeußerung der Elaſticitaͤt, das Beſtreben ſich
zuſammenzuziehen kein Ausdehnungstrieb genennet wer-
den; oder — denn was kommt es auf den Namen an?
nicht in demſelbigen Sinn, mit Ruͤckſicht auf dieſelbige
Art hervorzugehen, und nicht mit mehrerm Grunde,
als er auch ein Zuſammenziehungstrieb heißen kann.
Noch weniger, meine ich, gehe dieß bey dem menſchli-
chen Naturtriebe an. Es iſt derſelbige, der ſich anfangs
als Entwickelungstrieb, dann auf die entgegengeſetzte
Weiſe offenbaret. Er hat daſſelbige Princip in der Na-
tur zum Grunde, und es moͤgen auch beide Aeußerun-
gen auf einen gemeinſchaftlichen generiſchen Begriff ge-
bracht werden koͤnnen. Aber der Begriff von Entwi-
ckelung wird alsdenn zu beſtimmt und zu einſeitig ſeyn.
12.
So gewiß es iſt, daß Kraͤfte und Vermoͤgen nur
in ihren Wirkungen empfunden werden, ſo gewiß iſt es
doch auch, daß ſie als in uns vorhanden, auch wenn
man ſie nicht in der Maße anwendet, wie es ſeyn muß,
wenn wir ſagen, daß ſie thaͤtig ſind und wirken, gefuͤh-
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