wiederholet und erneuert worden, und haben daher aus mehrern Vorstellungen Nahrung und Stärkung gezo- gen, durch welche sie auch alsdenn noch erhalten werden können, wenn die Vorstellungen von den vorzüglichsten Gegenständen der Thätigkeit verloren sind. Je allge- meiner die Wirkungsarten sind, in je mehrern besondern Kraftäußerungen der Seele sie vorkommen, desto weni- ger können sie verlernet werden.
3.
Sollte die menschliche Seele in den Zustand der erstern Kindheit vor ihrer Ausbildung zurückgesetzt wer- den: so müßten nicht nur die Spuren von ihren erwor- benen Vorstellungen und Fertigkeiten weggehen, sondern es müßte auch ihre ehemalige Receptivität wieder er- neuert werden. Dadurch, daß sie nach und nach mit vielen besondern Jdeenreihen erfüllet ward, verlor sich etwas von ihrer anfänglichen Leichtigkeit anzunehmen, in Hinsicht gewisser Arten von Veränderungen. Sie ward fester, stärker, ungelenksamer, je mehr sie an verschie- denen Seiten entwickelt ward. Jede Form, die sie empfängt, oder die sich fester setzet, wird ein Hinderniß zu einer andern entgegengesetzten Form. Jene große Geschmeidigkeit aber ist ein wesentliches Stück der Ver- jüngerung, wenn eine solche stattfinden könnte. Wir finden sie in der Abnahme des Alters nicht, nicht ein- mal in der sogenannten Kindheit des Alters. Aber man trift etwas davon in dem Vergessen und Verlernen an. Wenn man viele Jdeen der Vergessenheit über- giebt und sie nicht mehr bearbeitet, so scheinet es, als wenn man Raum im Gedächtnisse zu andern mache. Gleichwohl haben jene immer etwas zurückgelassen, das noch seine Stelle einnimmt, und doch ein merkliches Hin- derniß ist, wenn neue hinzugesetzt werden sollen.
IV. Von
und Entwickelung des Menſchen.
wiederholet und erneuert worden, und haben daher aus mehrern Vorſtellungen Nahrung und Staͤrkung gezo- gen, durch welche ſie auch alsdenn noch erhalten werden koͤnnen, wenn die Vorſtellungen von den vorzuͤglichſten Gegenſtaͤnden der Thaͤtigkeit verloren ſind. Je allge- meiner die Wirkungsarten ſind, in je mehrern beſondern Kraftaͤußerungen der Seele ſie vorkommen, deſto weni- ger koͤnnen ſie verlernet werden.
3.
Sollte die menſchliche Seele in den Zuſtand der erſtern Kindheit vor ihrer Ausbildung zuruͤckgeſetzt wer- den: ſo muͤßten nicht nur die Spuren von ihren erwor- benen Vorſtellungen und Fertigkeiten weggehen, ſondern es muͤßte auch ihre ehemalige Receptivitaͤt wieder er- neuert werden. Dadurch, daß ſie nach und nach mit vielen beſondern Jdeenreihen erfuͤllet ward, verlor ſich etwas von ihrer anfaͤnglichen Leichtigkeit anzunehmen, in Hinſicht gewiſſer Arten von Veraͤnderungen. Sie ward feſter, ſtaͤrker, ungelenkſamer, je mehr ſie an verſchie- denen Seiten entwickelt ward. Jede Form, die ſie empfaͤngt, oder die ſich feſter ſetzet, wird ein Hinderniß zu einer andern entgegengeſetzten Form. Jene große Geſchmeidigkeit aber iſt ein weſentliches Stuͤck der Ver- juͤngerung, wenn eine ſolche ſtattfinden koͤnnte. Wir finden ſie in der Abnahme des Alters nicht, nicht ein- mal in der ſogenannten Kindheit des Alters. Aber man trift etwas davon in dem Vergeſſen und Verlernen an. Wenn man viele Jdeen der Vergeſſenheit uͤber- giebt und ſie nicht mehr bearbeitet, ſo ſcheinet es, als wenn man Raum im Gedaͤchtniſſe zu andern mache. Gleichwohl haben jene immer etwas zuruͤckgelaſſen, das noch ſeine Stelle einnimmt, und doch ein merkliches Hin- derniß iſt, wenn neue hinzugeſetzt werden ſollen.
IV. Von
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0765"n="735"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">und Entwickelung des Menſchen.</hi></fw><lb/>
wiederholet und erneuert worden, und haben daher aus<lb/>
mehrern Vorſtellungen Nahrung und Staͤrkung gezo-<lb/>
gen, durch welche ſie auch alsdenn noch erhalten werden<lb/>
koͤnnen, wenn die Vorſtellungen von den vorzuͤglichſten<lb/>
Gegenſtaͤnden der Thaͤtigkeit verloren ſind. Je allge-<lb/>
meiner die Wirkungsarten ſind, in je mehrern beſondern<lb/>
Kraftaͤußerungen der Seele ſie vorkommen, deſto weni-<lb/>
ger koͤnnen ſie verlernet werden.</p></div><lb/><divn="4"><head>3.</head><lb/><p>Sollte die menſchliche Seele in den Zuſtand der<lb/>
erſtern Kindheit vor ihrer Ausbildung zuruͤckgeſetzt wer-<lb/>
den: ſo muͤßten nicht nur die Spuren von ihren erwor-<lb/>
benen Vorſtellungen und Fertigkeiten weggehen, ſondern<lb/>
es muͤßte auch ihre ehemalige <hirendition="#fr">Receptivitaͤt</hi> wieder er-<lb/>
neuert werden. Dadurch, daß ſie nach und nach mit<lb/>
vielen beſondern Jdeenreihen erfuͤllet ward, verlor ſich<lb/>
etwas von ihrer anfaͤnglichen Leichtigkeit anzunehmen, in<lb/>
Hinſicht gewiſſer Arten von Veraͤnderungen. Sie ward<lb/>
feſter, ſtaͤrker, ungelenkſamer, je mehr ſie an verſchie-<lb/>
denen Seiten entwickelt ward. Jede Form, die ſie<lb/>
empfaͤngt, oder die ſich feſter ſetzet, wird ein Hinderniß<lb/>
zu einer andern entgegengeſetzten Form. Jene große<lb/>
Geſchmeidigkeit aber iſt ein weſentliches Stuͤck der <hirendition="#fr">Ver-<lb/>
juͤngerung,</hi> wenn eine ſolche ſtattfinden koͤnnte. Wir<lb/>
finden ſie in der Abnahme des Alters nicht, nicht ein-<lb/>
mal in der ſogenannten Kindheit des Alters. Aber man<lb/>
trift etwas davon in dem Vergeſſen und Verlernen<lb/>
an. Wenn man viele Jdeen der Vergeſſenheit uͤber-<lb/>
giebt und ſie nicht mehr bearbeitet, ſo ſcheinet es, als<lb/>
wenn man Raum im Gedaͤchtniſſe zu andern mache.<lb/>
Gleichwohl haben jene immer etwas zuruͤckgelaſſen, das<lb/>
noch ſeine Stelle einnimmt, und doch ein merkliches Hin-<lb/>
derniß iſt, wenn neue hinzugeſetzt werden ſollen.</p></div></div><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#aq">IV.</hi> Von</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[735/0765]
und Entwickelung des Menſchen.
wiederholet und erneuert worden, und haben daher aus
mehrern Vorſtellungen Nahrung und Staͤrkung gezo-
gen, durch welche ſie auch alsdenn noch erhalten werden
koͤnnen, wenn die Vorſtellungen von den vorzuͤglichſten
Gegenſtaͤnden der Thaͤtigkeit verloren ſind. Je allge-
meiner die Wirkungsarten ſind, in je mehrern beſondern
Kraftaͤußerungen der Seele ſie vorkommen, deſto weni-
ger koͤnnen ſie verlernet werden.
3.
Sollte die menſchliche Seele in den Zuſtand der
erſtern Kindheit vor ihrer Ausbildung zuruͤckgeſetzt wer-
den: ſo muͤßten nicht nur die Spuren von ihren erwor-
benen Vorſtellungen und Fertigkeiten weggehen, ſondern
es muͤßte auch ihre ehemalige Receptivitaͤt wieder er-
neuert werden. Dadurch, daß ſie nach und nach mit
vielen beſondern Jdeenreihen erfuͤllet ward, verlor ſich
etwas von ihrer anfaͤnglichen Leichtigkeit anzunehmen, in
Hinſicht gewiſſer Arten von Veraͤnderungen. Sie ward
feſter, ſtaͤrker, ungelenkſamer, je mehr ſie an verſchie-
denen Seiten entwickelt ward. Jede Form, die ſie
empfaͤngt, oder die ſich feſter ſetzet, wird ein Hinderniß
zu einer andern entgegengeſetzten Form. Jene große
Geſchmeidigkeit aber iſt ein weſentliches Stuͤck der Ver-
juͤngerung, wenn eine ſolche ſtattfinden koͤnnte. Wir
finden ſie in der Abnahme des Alters nicht, nicht ein-
mal in der ſogenannten Kindheit des Alters. Aber man
trift etwas davon in dem Vergeſſen und Verlernen
an. Wenn man viele Jdeen der Vergeſſenheit uͤber-
giebt und ſie nicht mehr bearbeitet, ſo ſcheinet es, als
wenn man Raum im Gedaͤchtniſſe zu andern mache.
Gleichwohl haben jene immer etwas zuruͤckgelaſſen, das
noch ſeine Stelle einnimmt, und doch ein merkliches Hin-
derniß iſt, wenn neue hinzugeſetzt werden ſollen.
IV. Von
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 735. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/765>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.