II. Von der Wiederabnahme der Seelenvermögen überhaupt.
1) Vorerinnerung. 2) Jn welchem Verstande die Wiederabnah- me der Seelenvermögen keine Wiedereinwi- ckelung der Seele seyn kann.
1.
Die Periode der Wiederabnahme in den Seelenver- mögen kann man fast von demselbigen Punkt an- nehmen, wo das Maximum in der Entwickelung er- langet ist. Jndessen giebt es doch in der Seele wie in dem Körper einen gewissen Stillstand von einiger Zeit, der als ein Beharrungsstand anzusehen ist, worinn die Zunahme und Abnahme einander gleich, oder doch nicht merklich ungleich sind, die, wie es sich bey allen fortschreitenden und wiederabnehmenden Wesen verhält, schnell und in den kleinsten Graden mit einander ab- wechseln. Dieß ist des Menschen Mittag. Die Kräf- te der Seele und des Körpers erfahren ihre Fluth und Ebbe. Sie sind an dem Morgen jeden Tages stärker und munterer als am Abend. Sie erfahren noch mehr Abwechselung, wenn der Mensch krank und wieder ge- sund wird. Allein so lange der Stillstand in dem Leben dauert, setzet sich alles wieder so ziemlich in den Gleich- stand, daß Jahre vergehen, ehe die Abnahme merk- lich wird.
Die Abnahme in den Kräften des Körpers, und die in den Seelenkräften, gehen gewissermaßen nebeneinander. Es lehret auch bey dieser wie bey jener die Erfahrung, "daß die Abnahme desto zeitiger ein- "tritt, je schneller die Entwickelung bis zu ihrem Größ- "ten gegangen ist." Dieß geschieht gemeiniglich, ob-
gleich
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
II. Von der Wiederabnahme der Seelenvermoͤgen uͤberhaupt.
1) Vorerinnerung. 2) Jn welchem Verſtande die Wiederabnah- me der Seelenvermoͤgen keine Wiedereinwi- ckelung der Seele ſeyn kann.
1.
Die Periode der Wiederabnahme in den Seelenver- moͤgen kann man faſt von demſelbigen Punkt an- nehmen, wo das Maximum in der Entwickelung er- langet iſt. Jndeſſen giebt es doch in der Seele wie in dem Koͤrper einen gewiſſen Stillſtand von einiger Zeit, der als ein Beharrungsſtand anzuſehen iſt, worinn die Zunahme und Abnahme einander gleich, oder doch nicht merklich ungleich ſind, die, wie es ſich bey allen fortſchreitenden und wiederabnehmenden Weſen verhaͤlt, ſchnell und in den kleinſten Graden mit einander ab- wechſeln. Dieß iſt des Menſchen Mittag. Die Kraͤf- te der Seele und des Koͤrpers erfahren ihre Fluth und Ebbe. Sie ſind an dem Morgen jeden Tages ſtaͤrker und munterer als am Abend. Sie erfahren noch mehr Abwechſelung, wenn der Menſch krank und wieder ge- ſund wird. Allein ſo lange der Stillſtand in dem Leben dauert, ſetzet ſich alles wieder ſo ziemlich in den Gleich- ſtand, daß Jahre vergehen, ehe die Abnahme merk- lich wird.
Die Abnahme in den Kraͤften des Koͤrpers, und die in den Seelenkraͤften, gehen gewiſſermaßen nebeneinander. Es lehret auch bey dieſer wie bey jener die Erfahrung, „daß die Abnahme deſto zeitiger ein- „tritt, je ſchneller die Entwickelung bis zu ihrem Groͤß- „ten gegangen iſt.‟ Dieß geſchieht gemeiniglich, ob-
gleich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0756"n="726"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XIV.</hi> Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt</hi></fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#aq">II.</hi><lb/>
Von der Wiederabnahme der Seelenvermoͤgen<lb/>
uͤberhaupt.</head><lb/><argument><p><list><item>1) <hirendition="#fr">Vorerinnerung.</hi></item><lb/><item>2) <hirendition="#fr">Jn welchem Verſtande die Wiederabnah-<lb/>
me der Seelenvermoͤgen keine Wiedereinwi-<lb/>
ckelung der Seele ſeyn kann.</hi></item></list></p></argument><lb/><divn="4"><head>1.</head><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>ie Periode der Wiederabnahme in den Seelenver-<lb/>
moͤgen kann man faſt von demſelbigen Punkt an-<lb/>
nehmen, wo das Maximum in der Entwickelung er-<lb/>
langet iſt. Jndeſſen giebt es doch in der Seele wie in<lb/>
dem Koͤrper einen gewiſſen <hirendition="#fr">Stillſtand</hi> von einiger Zeit,<lb/>
der als ein <hirendition="#fr">Beharrungsſtand</hi> anzuſehen iſt, worinn<lb/>
die Zunahme und Abnahme einander gleich, oder doch<lb/>
nicht merklich ungleich ſind, die, wie es ſich bey allen<lb/>
fortſchreitenden und wiederabnehmenden Weſen verhaͤlt,<lb/>ſchnell und in den kleinſten Graden mit einander ab-<lb/>
wechſeln. Dieß iſt des Menſchen Mittag. Die Kraͤf-<lb/>
te der Seele und des Koͤrpers erfahren ihre Fluth und<lb/>
Ebbe. Sie ſind an dem Morgen jeden Tages ſtaͤrker<lb/>
und munterer als am Abend. Sie erfahren noch mehr<lb/>
Abwechſelung, wenn der Menſch krank und wieder ge-<lb/>ſund wird. Allein ſo lange der Stillſtand in dem Leben<lb/>
dauert, ſetzet ſich alles wieder ſo ziemlich in den Gleich-<lb/>ſtand, daß Jahre vergehen, ehe die Abnahme merk-<lb/>
lich wird.</p><lb/><p>Die Abnahme in den <hirendition="#fr">Kraͤften des Koͤrpers,</hi><lb/>
und die in den <hirendition="#fr">Seelenkraͤften,</hi> gehen gewiſſermaßen<lb/>
nebeneinander. Es lehret auch bey dieſer wie bey jener<lb/>
die Erfahrung, „daß die Abnahme deſto zeitiger ein-<lb/>„tritt, je ſchneller die Entwickelung bis zu ihrem Groͤß-<lb/>„ten gegangen iſt.‟ Dieß geſchieht gemeiniglich, ob-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">gleich</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[726/0756]
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
II.
Von der Wiederabnahme der Seelenvermoͤgen
uͤberhaupt.
1) Vorerinnerung.
2) Jn welchem Verſtande die Wiederabnah-
me der Seelenvermoͤgen keine Wiedereinwi-
ckelung der Seele ſeyn kann.
1.
Die Periode der Wiederabnahme in den Seelenver-
moͤgen kann man faſt von demſelbigen Punkt an-
nehmen, wo das Maximum in der Entwickelung er-
langet iſt. Jndeſſen giebt es doch in der Seele wie in
dem Koͤrper einen gewiſſen Stillſtand von einiger Zeit,
der als ein Beharrungsſtand anzuſehen iſt, worinn
die Zunahme und Abnahme einander gleich, oder doch
nicht merklich ungleich ſind, die, wie es ſich bey allen
fortſchreitenden und wiederabnehmenden Weſen verhaͤlt,
ſchnell und in den kleinſten Graden mit einander ab-
wechſeln. Dieß iſt des Menſchen Mittag. Die Kraͤf-
te der Seele und des Koͤrpers erfahren ihre Fluth und
Ebbe. Sie ſind an dem Morgen jeden Tages ſtaͤrker
und munterer als am Abend. Sie erfahren noch mehr
Abwechſelung, wenn der Menſch krank und wieder ge-
ſund wird. Allein ſo lange der Stillſtand in dem Leben
dauert, ſetzet ſich alles wieder ſo ziemlich in den Gleich-
ſtand, daß Jahre vergehen, ehe die Abnahme merk-
lich wird.
Die Abnahme in den Kraͤften des Koͤrpers,
und die in den Seelenkraͤften, gehen gewiſſermaßen
nebeneinander. Es lehret auch bey dieſer wie bey jener
die Erfahrung, „daß die Abnahme deſto zeitiger ein-
„tritt, je ſchneller die Entwickelung bis zu ihrem Groͤß-
„ten gegangen iſt.‟ Dieß geſchieht gemeiniglich, ob-
gleich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 726. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/756>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.