Wird die Reproduktion der harmonischen Bewegungen in dem Körper erschweret, so wird auch die Erweckung der menschlichen Vorstellungen und der menschlichen Seelenthätigkeiten erschweret. Denn diese letztern erfol- gen nicht, woferne nicht jene vorhanden sind; und ohne das Gefühl der begleitenden körperlichen Bewegungen fühlt und appercipirt die Seele ihre eigene Aktion nicht. Der Mensch wird also langsamer und minder lebhaft denken, wollen, handeln, wenn das Organ der Seele nicht mehr mit der vorigen Leichtigkeit ihm zu Diensten ist. Allein eben diese Schwierigkeit, das Organ gehörig zu lenken, kann eine Veranlassung seyn, die Kraft des un- körperlichen Jchs anzustrengen, zu üben und zu stär- ken. Mag die ganze menschliche Thätigkeit gerin- ger seyn, als vorhero, so kann die Seelenthätigkeit, als der immaterielle Antheil derselben, größer seyn. Es ist also wenigstens nicht ganz unmöglich, und mehr be- haupte ich hier nicht, daß auch noch in dem Alter, wenn das Feuer im Denken und Handeln nachläßt und zu verlöschen anfängt, die Stärke der innern Seelenkraft nicht nur dieselbige bleibe, sondern noch fortfahre erhö- het zu werden.
6.
Die relativen Vermögen, oder besondere Ge- schicklichkeiten, müssen gleichfalls im Menschen ihr Ma- ximum erreichen, und erreichen es, wie die Erfahrung von allen Virtuosen lehret. Doch ist dieser Punkt von dem Punkt des Größten in den absoluten Kräften unter- schieden. Die letztern haben oft genug ihre höchste Stu- fe schon erreicht, wenn die Fertigkeiten in gewissen be- stimmten Arten zu handeln nicht nur sich vervielfältigen und also an Ausdehnung zunehmen, sondern auch an innerer Stärke und Geschwindigkeit noch fortwachsen. Dieser Wachsthum kann weit in die Periode der Ab-
nahme
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Wird die Reproduktion der harmoniſchen Bewegungen in dem Koͤrper erſchweret, ſo wird auch die Erweckung der menſchlichen Vorſtellungen und der menſchlichen Seelenthaͤtigkeiten erſchweret. Denn dieſe letztern erfol- gen nicht, woferne nicht jene vorhanden ſind; und ohne das Gefuͤhl der begleitenden koͤrperlichen Bewegungen fuͤhlt und appercipirt die Seele ihre eigene Aktion nicht. Der Menſch wird alſo langſamer und minder lebhaft denken, wollen, handeln, wenn das Organ der Seele nicht mehr mit der vorigen Leichtigkeit ihm zu Dienſten iſt. Allein eben dieſe Schwierigkeit, das Organ gehoͤrig zu lenken, kann eine Veranlaſſung ſeyn, die Kraft des un- koͤrperlichen Jchs anzuſtrengen, zu uͤben und zu ſtaͤr- ken. Mag die ganze menſchliche Thaͤtigkeit gerin- ger ſeyn, als vorhero, ſo kann die Seelenthaͤtigkeit, als der immaterielle Antheil derſelben, groͤßer ſeyn. Es iſt alſo wenigſtens nicht ganz unmoͤglich, und mehr be- haupte ich hier nicht, daß auch noch in dem Alter, wenn das Feuer im Denken und Handeln nachlaͤßt und zu verloͤſchen anfaͤngt, die Staͤrke der innern Seelenkraft nicht nur dieſelbige bleibe, ſondern noch fortfahre erhoͤ- het zu werden.
6.
Die relativen Vermoͤgen, oder beſondere Ge- ſchicklichkeiten, muͤſſen gleichfalls im Menſchen ihr Ma- ximum erreichen, und erreichen es, wie die Erfahrung von allen Virtuoſen lehret. Doch iſt dieſer Punkt von dem Punkt des Groͤßten in den abſoluten Kraͤften unter- ſchieden. Die letztern haben oft genug ihre hoͤchſte Stu- fe ſchon erreicht, wenn die Fertigkeiten in gewiſſen be- ſtimmten Arten zu handeln nicht nur ſich vervielfaͤltigen und alſo an Ausdehnung zunehmen, ſondern auch an innerer Staͤrke und Geſchwindigkeit noch fortwachſen. Dieſer Wachsthum kann weit in die Periode der Ab-
nahme
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0754"n="724"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XIV.</hi> Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt</hi></fw><lb/>
Wird die Reproduktion der harmoniſchen Bewegungen<lb/>
in dem Koͤrper erſchweret, ſo wird auch die Erweckung<lb/>
der menſchlichen Vorſtellungen und der menſchlichen<lb/>
Seelenthaͤtigkeiten erſchweret. Denn dieſe letztern erfol-<lb/>
gen nicht, woferne nicht jene vorhanden ſind; und ohne<lb/>
das Gefuͤhl der begleitenden koͤrperlichen Bewegungen<lb/>
fuͤhlt und appercipirt die Seele ihre eigene Aktion nicht.<lb/>
Der Menſch wird alſo langſamer und minder lebhaft<lb/>
denken, wollen, handeln, wenn das Organ der Seele<lb/>
nicht mehr mit der vorigen Leichtigkeit ihm zu Dienſten iſt.<lb/>
Allein eben dieſe Schwierigkeit, das Organ gehoͤrig zu<lb/>
lenken, kann eine Veranlaſſung ſeyn, die Kraft des un-<lb/>
koͤrperlichen Jchs anzuſtrengen, zu uͤben und zu ſtaͤr-<lb/>
ken. Mag die ganze <hirendition="#fr">menſchliche</hi> Thaͤtigkeit gerin-<lb/>
ger ſeyn, als vorhero, ſo kann die <hirendition="#fr">Seelenthaͤtigkeit,</hi><lb/>
als der immaterielle Antheil derſelben, groͤßer ſeyn. Es<lb/>
iſt alſo wenigſtens nicht ganz unmoͤglich, und mehr be-<lb/>
haupte ich hier nicht, daß auch noch in dem Alter, wenn<lb/>
das Feuer im Denken und Handeln nachlaͤßt und zu<lb/>
verloͤſchen anfaͤngt, die Staͤrke der innern Seelenkraft<lb/>
nicht nur dieſelbige bleibe, ſondern noch fortfahre erhoͤ-<lb/>
het zu werden.</p></div><lb/><divn="4"><head>6.</head><lb/><p>Die <hirendition="#fr">relativen Vermoͤgen,</hi> oder beſondere Ge-<lb/>ſchicklichkeiten, muͤſſen gleichfalls im Menſchen ihr Ma-<lb/>
ximum erreichen, und erreichen es, wie die Erfahrung<lb/>
von allen Virtuoſen lehret. Doch iſt dieſer Punkt von<lb/>
dem Punkt des Groͤßten in den abſoluten Kraͤften unter-<lb/>ſchieden. Die letztern haben oft genug ihre hoͤchſte Stu-<lb/>
fe ſchon erreicht, wenn die Fertigkeiten in gewiſſen be-<lb/>ſtimmten Arten zu handeln nicht nur ſich vervielfaͤltigen<lb/>
und alſo an Ausdehnung zunehmen, ſondern auch an<lb/>
innerer Staͤrke und Geſchwindigkeit noch fortwachſen.<lb/>
Dieſer Wachsthum kann weit in die Periode der Ab-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">nahme</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[724/0754]
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Wird die Reproduktion der harmoniſchen Bewegungen
in dem Koͤrper erſchweret, ſo wird auch die Erweckung
der menſchlichen Vorſtellungen und der menſchlichen
Seelenthaͤtigkeiten erſchweret. Denn dieſe letztern erfol-
gen nicht, woferne nicht jene vorhanden ſind; und ohne
das Gefuͤhl der begleitenden koͤrperlichen Bewegungen
fuͤhlt und appercipirt die Seele ihre eigene Aktion nicht.
Der Menſch wird alſo langſamer und minder lebhaft
denken, wollen, handeln, wenn das Organ der Seele
nicht mehr mit der vorigen Leichtigkeit ihm zu Dienſten iſt.
Allein eben dieſe Schwierigkeit, das Organ gehoͤrig zu
lenken, kann eine Veranlaſſung ſeyn, die Kraft des un-
koͤrperlichen Jchs anzuſtrengen, zu uͤben und zu ſtaͤr-
ken. Mag die ganze menſchliche Thaͤtigkeit gerin-
ger ſeyn, als vorhero, ſo kann die Seelenthaͤtigkeit,
als der immaterielle Antheil derſelben, groͤßer ſeyn. Es
iſt alſo wenigſtens nicht ganz unmoͤglich, und mehr be-
haupte ich hier nicht, daß auch noch in dem Alter, wenn
das Feuer im Denken und Handeln nachlaͤßt und zu
verloͤſchen anfaͤngt, die Staͤrke der innern Seelenkraft
nicht nur dieſelbige bleibe, ſondern noch fortfahre erhoͤ-
het zu werden.
6.
Die relativen Vermoͤgen, oder beſondere Ge-
ſchicklichkeiten, muͤſſen gleichfalls im Menſchen ihr Ma-
ximum erreichen, und erreichen es, wie die Erfahrung
von allen Virtuoſen lehret. Doch iſt dieſer Punkt von
dem Punkt des Groͤßten in den abſoluten Kraͤften unter-
ſchieden. Die letztern haben oft genug ihre hoͤchſte Stu-
fe ſchon erreicht, wenn die Fertigkeiten in gewiſſen be-
ſtimmten Arten zu handeln nicht nur ſich vervielfaͤltigen
und alſo an Ausdehnung zunehmen, ſondern auch an
innerer Staͤrke und Geſchwindigkeit noch fortwachſen.
Dieſer Wachsthum kann weit in die Periode der Ab-
nahme
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 724. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/754>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.