Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibiliät
Vollkommenheit seyn, so ist die angegebene Beziehung
eine Rangordnung, in der die von einer höhern Klasse
auch größer sind an innerer menschlichen Realität, als
die von der niedrigern. Aber wenn man den Gesichts-
punkt verändert, bleibt alsdenn noch dieselbige Ordnung?
oder kann sie etwan sich gar umkehren, daß dasjenige,
was oben stand, unten hinkommt? Jst der Mensch ganz
selbstthätige Seele? und sind alle seine reellen Kräfte,
Vermögen, Vollkommenheiten, nur Grade in der
Selbstthätigkeit? Sind sie alle Seelenrealitäten?
Dieß ist wenigstens eine Frage, die man nicht so gerade
hin beantworten kann. Nimmt man die ganze Summe
aller geistigen und körperlichen Vermögen, aller thieri-
schen und vernünftigen Kräfte, im Gefühl, in der Vor-
stellungs-und Denkkraft und in dem Willen, nebst der
Bewegungskraft, die in die Glieder des Körpers wirket;
und sieht man diesen ganzen Jnbegriff von Kräften
und Vermögen als die ganze Realität der menschlichen
Natur an: so wird auch der Wilde und der Barbar
vielleicht nicht mehr so niedrig unter den Kultivirten
heruntergesetzt werden müssen, als vorher, da die Größe
der Menschheit allein nach der Größe der selbstthätigen
Denkkraft geschätzet ward. Sollte die körperliche Kraft
der Organisation und die äußere Sinnlichkeit zum Maß-
stab genommen werden, so müßte im Durchschnitt der
Kultivirte dem Barbaren und unter dem Wilden nach-
stehen. Dieß wird noch eine Betrachtung über den
verhältnißmäßigen Werth der menschlichen Realitäten
erfodern. Aber vorher will ich noch einmal auf die
Beziehung der obgedachten Stufen und auf die Art,
wie Jndividuen von einer zu der andern sich erheben,
einen Blick werfen.

3.

Jn der niedrigsten Stufe der Sinnlichkeit werden
weniger Triebe und weniger Denkvermögen entwickelt.

Aber

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤt
Vollkommenheit ſeyn, ſo iſt die angegebene Beziehung
eine Rangordnung, in der die von einer hoͤhern Klaſſe
auch groͤßer ſind an innerer menſchlichen Realitaͤt, als
die von der niedrigern. Aber wenn man den Geſichts-
punkt veraͤndert, bleibt alsdenn noch dieſelbige Ordnung?
oder kann ſie etwan ſich gar umkehren, daß dasjenige,
was oben ſtand, unten hinkommt? Jſt der Menſch ganz
ſelbſtthaͤtige Seele? und ſind alle ſeine reellen Kraͤfte,
Vermoͤgen, Vollkommenheiten, nur Grade in der
Selbſtthaͤtigkeit? Sind ſie alle Seelenrealitaͤten?
Dieß iſt wenigſtens eine Frage, die man nicht ſo gerade
hin beantworten kann. Nimmt man die ganze Summe
aller geiſtigen und koͤrperlichen Vermoͤgen, aller thieri-
ſchen und vernuͤnftigen Kraͤfte, im Gefuͤhl, in der Vor-
ſtellungs-und Denkkraft und in dem Willen, nebſt der
Bewegungskraft, die in die Glieder des Koͤrpers wirket;
und ſieht man dieſen ganzen Jnbegriff von Kraͤften
und Vermoͤgen als die ganze Realitaͤt der menſchlichen
Natur an: ſo wird auch der Wilde und der Barbar
vielleicht nicht mehr ſo niedrig unter den Kultivirten
heruntergeſetzt werden muͤſſen, als vorher, da die Groͤße
der Menſchheit allein nach der Groͤße der ſelbſtthaͤtigen
Denkkraft geſchaͤtzet ward. Sollte die koͤrperliche Kraft
der Organiſation und die aͤußere Sinnlichkeit zum Maß-
ſtab genommen werden, ſo muͤßte im Durchſchnitt der
Kultivirte dem Barbaren und unter dem Wilden nach-
ſtehen. Dieß wird noch eine Betrachtung uͤber den
verhaͤltnißmaͤßigen Werth der menſchlichen Realitaͤten
erfodern. Aber vorher will ich noch einmal auf die
Beziehung der obgedachten Stufen und auf die Art,
wie Jndividuen von einer zu der andern ſich erheben,
einen Blick werfen.

3.

Jn der niedrigſten Stufe der Sinnlichkeit werden
weniger Triebe und weniger Denkvermoͤgen entwickelt.

Aber
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0646" n="616"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilia&#x0364;t</hi></fw><lb/>
Vollkommenheit &#x017F;eyn, &#x017F;o i&#x017F;t die angegebene Beziehung<lb/>
eine Rangordnung, in der die von einer ho&#x0364;hern Kla&#x017F;&#x017F;e<lb/>
auch gro&#x0364;ßer &#x017F;ind an innerer men&#x017F;chlichen Realita&#x0364;t, als<lb/>
die von der niedrigern. Aber wenn man den Ge&#x017F;ichts-<lb/>
punkt vera&#x0364;ndert, bleibt alsdenn noch die&#x017F;elbige Ordnung?<lb/>
oder kann &#x017F;ie etwan &#x017F;ich gar umkehren, daß dasjenige,<lb/>
was oben &#x017F;tand, unten hinkommt? J&#x017F;t der Men&#x017F;ch ganz<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tige Seele? und &#x017F;ind alle &#x017F;eine reellen Kra&#x0364;fte,<lb/>
Vermo&#x0364;gen, Vollkommenheiten, nur Grade in der<lb/>
Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit? Sind &#x017F;ie alle Seelenrealita&#x0364;ten?<lb/>
Dieß i&#x017F;t wenig&#x017F;tens eine Frage, die man nicht &#x017F;o gerade<lb/>
hin beantworten kann. Nimmt man die ganze Summe<lb/>
aller gei&#x017F;tigen und ko&#x0364;rperlichen Vermo&#x0364;gen, aller thieri-<lb/>
&#x017F;chen und vernu&#x0364;nftigen Kra&#x0364;fte, im Gefu&#x0364;hl, in der Vor-<lb/>
&#x017F;tellungs-und Denkkraft und in dem Willen, neb&#x017F;t der<lb/>
Bewegungskraft, die in die Glieder des Ko&#x0364;rpers wirket;<lb/>
und &#x017F;ieht man die&#x017F;en ganzen Jnbegriff von Kra&#x0364;ften<lb/>
und Vermo&#x0364;gen als die ganze Realita&#x0364;t der men&#x017F;chlichen<lb/>
Natur an: &#x017F;o wird auch der Wilde und der Barbar<lb/>
vielleicht nicht mehr &#x017F;o niedrig unter den Kultivirten<lb/>
herunterge&#x017F;etzt werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, als vorher, da die Gro&#x0364;ße<lb/>
der Men&#x017F;chheit allein nach der Gro&#x0364;ße der &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tigen<lb/>
Denkkraft ge&#x017F;cha&#x0364;tzet ward. Sollte die ko&#x0364;rperliche Kraft<lb/>
der Organi&#x017F;ation und die a&#x0364;ußere Sinnlichkeit zum Maß-<lb/>
&#x017F;tab genommen werden, &#x017F;o mu&#x0364;ßte im Durch&#x017F;chnitt der<lb/>
Kultivirte dem Barbaren und unter dem Wilden nach-<lb/>
&#x017F;tehen. Dieß wird noch eine Betrachtung u&#x0364;ber den<lb/>
verha&#x0364;ltnißma&#x0364;ßigen Werth der men&#x017F;chlichen Realita&#x0364;ten<lb/>
erfodern. Aber vorher will ich noch einmal auf die<lb/>
Beziehung der obgedachten Stufen und auf die Art,<lb/>
wie Jndividuen von einer zu der andern &#x017F;ich erheben,<lb/>
einen Blick werfen.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>3.</head><lb/>
              <p>Jn der niedrig&#x017F;ten Stufe der Sinnlichkeit werden<lb/>
weniger Triebe und weniger Denkvermo&#x0364;gen entwickelt.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Aber</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[616/0646] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤt Vollkommenheit ſeyn, ſo iſt die angegebene Beziehung eine Rangordnung, in der die von einer hoͤhern Klaſſe auch groͤßer ſind an innerer menſchlichen Realitaͤt, als die von der niedrigern. Aber wenn man den Geſichts- punkt veraͤndert, bleibt alsdenn noch dieſelbige Ordnung? oder kann ſie etwan ſich gar umkehren, daß dasjenige, was oben ſtand, unten hinkommt? Jſt der Menſch ganz ſelbſtthaͤtige Seele? und ſind alle ſeine reellen Kraͤfte, Vermoͤgen, Vollkommenheiten, nur Grade in der Selbſtthaͤtigkeit? Sind ſie alle Seelenrealitaͤten? Dieß iſt wenigſtens eine Frage, die man nicht ſo gerade hin beantworten kann. Nimmt man die ganze Summe aller geiſtigen und koͤrperlichen Vermoͤgen, aller thieri- ſchen und vernuͤnftigen Kraͤfte, im Gefuͤhl, in der Vor- ſtellungs-und Denkkraft und in dem Willen, nebſt der Bewegungskraft, die in die Glieder des Koͤrpers wirket; und ſieht man dieſen ganzen Jnbegriff von Kraͤften und Vermoͤgen als die ganze Realitaͤt der menſchlichen Natur an: ſo wird auch der Wilde und der Barbar vielleicht nicht mehr ſo niedrig unter den Kultivirten heruntergeſetzt werden muͤſſen, als vorher, da die Groͤße der Menſchheit allein nach der Groͤße der ſelbſtthaͤtigen Denkkraft geſchaͤtzet ward. Sollte die koͤrperliche Kraft der Organiſation und die aͤußere Sinnlichkeit zum Maß- ſtab genommen werden, ſo muͤßte im Durchſchnitt der Kultivirte dem Barbaren und unter dem Wilden nach- ſtehen. Dieß wird noch eine Betrachtung uͤber den verhaͤltnißmaͤßigen Werth der menſchlichen Realitaͤten erfodern. Aber vorher will ich noch einmal auf die Beziehung der obgedachten Stufen und auf die Art, wie Jndividuen von einer zu der andern ſich erheben, einen Blick werfen. 3. Jn der niedrigſten Stufe der Sinnlichkeit werden weniger Triebe und weniger Denkvermoͤgen entwickelt. Aber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/646
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 616. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/646>, abgerufen am 21.12.2024.