Zweeter Abschnitt. Von der Entwickelung des menschlichen Körpers.
I. Vorerinnerung.
Wieferne die Bildung organisirter Körper unaus- forschlich ist? Absicht der gegenwärtigen Be- trachtung.
1.
Ehe ich mich in diese Betrachtung über die Entwicke- lung des Körpers einlasse, muß ich zweyerley vor- her erinnern.
Jch habe die Schwierigkeiten gefühlt, welche bey einer Untersuchung vorkommen, wo auf Einer Seite von Haller und Bonnet den ganzen Umfang der bisher bekanntgewordenen Erfahrungen vor Augen ver- glichen, und nach der reifsten Ueberlegung urtheilten, es sey der Begrif von einer Entwickelung, der das Verfahren der Natur darstelle, und wo auf der andern Seite Wolf,*) der so tief in die Natur der Generation eindringet, daß es Mühe kostet ihm nachzukommen, eben dieselbigen Fakta vor Augen hat, und dennoch den Ausspruch thut, es sey nicht die Evolution, sondern der Begrif von der Epigenesis, die richtige Vorstellung. Andere große Männer, Buffon, Needham, haben sich nicht ganz zu der einen noch zu der andern Parthey gesellet, sondern sich selbst eine eigene Jdee davon ab- strahirt. Jch will von der Autorität anderer, die sich entweder für das eine oder das andere System erklären, nichts sagen. Wo solche Männer schon erkannt haben und unter sich uneinig sind, da wird man doch nicht vermu-
then,
*)Theoria generationis.
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Zweeter Abſchnitt. Von der Entwickelung des menſchlichen Koͤrpers.
I. Vorerinnerung.
Wieferne die Bildung organiſirter Koͤrper unaus- forſchlich iſt? Abſicht der gegenwaͤrtigen Be- trachtung.
1.
Ehe ich mich in dieſe Betrachtung uͤber die Entwicke- lung des Koͤrpers einlaſſe, muß ich zweyerley vor- her erinnern.
Jch habe die Schwierigkeiten gefuͤhlt, welche bey einer Unterſuchung vorkommen, wo auf Einer Seite von Haller und Bonnet den ganzen Umfang der bisher bekanntgewordenen Erfahrungen vor Augen ver- glichen, und nach der reifſten Ueberlegung urtheilten, es ſey der Begrif von einer Entwickelung, der das Verfahren der Natur darſtelle, und wo auf der andern Seite Wolf,*) der ſo tief in die Natur der Generation eindringet, daß es Muͤhe koſtet ihm nachzukommen, eben dieſelbigen Fakta vor Augen hat, und dennoch den Ausſpruch thut, es ſey nicht die Evolution, ſondern der Begrif von der Epigeneſis, die richtige Vorſtellung. Andere große Maͤnner, Buffon, Needham, haben ſich nicht ganz zu der einen noch zu der andern Parthey geſellet, ſondern ſich ſelbſt eine eigene Jdee davon ab- ſtrahirt. Jch will von der Autoritaͤt anderer, die ſich entweder fuͤr das eine oder das andere Syſtem erklaͤren, nichts ſagen. Wo ſolche Maͤnner ſchon erkannt haben und unter ſich uneinig ſind, da wird man doch nicht vermu-
then,
*)Theoria generationis.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0478"n="448"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XIV.</hi> Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt</hi></fw><lb/><divn="2"><head><hirendition="#g">Zweeter Abſchnitt</hi>.<lb/>
Von der Entwickelung des menſchlichen Koͤrpers.</head><lb/><divn="3"><head><hirendition="#aq">I.</hi><lb/><hirendition="#b">Vorerinnerung.</hi></head><lb/><argument><p>Wieferne die Bildung organiſirter Koͤrper unaus-<lb/>
forſchlich iſt? Abſicht der gegenwaͤrtigen Be-<lb/>
trachtung.</p></argument><lb/><divn="4"><head>1.</head><lb/><p><hirendition="#in">E</hi>he ich mich in dieſe Betrachtung uͤber die Entwicke-<lb/>
lung des Koͤrpers einlaſſe, muß ich zweyerley vor-<lb/>
her erinnern.</p><lb/><p>Jch habe die Schwierigkeiten gefuͤhlt, welche bey<lb/>
einer Unterſuchung vorkommen, wo auf Einer Seite<lb/><hirendition="#fr">von Haller</hi> und <hirendition="#fr">Bonnet</hi> den ganzen Umfang der<lb/>
bisher bekanntgewordenen Erfahrungen vor Augen ver-<lb/>
glichen, und nach der reifſten Ueberlegung urtheilten, es<lb/>ſey der <hirendition="#fr">Begrif von einer Entwickelung,</hi> der das<lb/>
Verfahren der Natur darſtelle, und wo auf der andern<lb/>
Seite <hirendition="#fr">Wolf,</hi><noteplace="foot"n="*)"><hirendition="#aq">Theoria generationis.</hi></note> der ſo tief in die Natur der Generation<lb/>
eindringet, daß es Muͤhe koſtet ihm nachzukommen,<lb/>
eben dieſelbigen Fakta vor Augen hat, und dennoch den<lb/>
Ausſpruch thut, es ſey nicht die Evolution, ſondern der<lb/>
Begrif von der Epigeneſis, die richtige Vorſtellung.<lb/>
Andere große Maͤnner, <hirendition="#fr">Buffon, Needham,</hi> haben<lb/>ſich nicht ganz zu der einen noch zu der andern Parthey<lb/>
geſellet, ſondern ſich ſelbſt eine eigene Jdee davon ab-<lb/>ſtrahirt. Jch will von der Autoritaͤt anderer, die ſich<lb/>
entweder fuͤr das eine oder das andere Syſtem erklaͤren,<lb/>
nichts ſagen. Wo ſolche Maͤnner ſchon erkannt haben<lb/>
und unter ſich uneinig ſind, da wird man doch nicht vermu-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">then,</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[448/0478]
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Zweeter Abſchnitt.
Von der Entwickelung des menſchlichen Koͤrpers.
I.
Vorerinnerung.
Wieferne die Bildung organiſirter Koͤrper unaus-
forſchlich iſt? Abſicht der gegenwaͤrtigen Be-
trachtung.
1.
Ehe ich mich in dieſe Betrachtung uͤber die Entwicke-
lung des Koͤrpers einlaſſe, muß ich zweyerley vor-
her erinnern.
Jch habe die Schwierigkeiten gefuͤhlt, welche bey
einer Unterſuchung vorkommen, wo auf Einer Seite
von Haller und Bonnet den ganzen Umfang der
bisher bekanntgewordenen Erfahrungen vor Augen ver-
glichen, und nach der reifſten Ueberlegung urtheilten, es
ſey der Begrif von einer Entwickelung, der das
Verfahren der Natur darſtelle, und wo auf der andern
Seite Wolf, *) der ſo tief in die Natur der Generation
eindringet, daß es Muͤhe koſtet ihm nachzukommen,
eben dieſelbigen Fakta vor Augen hat, und dennoch den
Ausſpruch thut, es ſey nicht die Evolution, ſondern der
Begrif von der Epigeneſis, die richtige Vorſtellung.
Andere große Maͤnner, Buffon, Needham, haben
ſich nicht ganz zu der einen noch zu der andern Parthey
geſellet, ſondern ſich ſelbſt eine eigene Jdee davon ab-
ſtrahirt. Jch will von der Autoritaͤt anderer, die ſich
entweder fuͤr das eine oder das andere Syſtem erklaͤren,
nichts ſagen. Wo ſolche Maͤnner ſchon erkannt haben
und unter ſich uneinig ſind, da wird man doch nicht vermu-
then,
*) Theoria generationis.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/478>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.