Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
relative Fertigkeiten angenommen hat, und nun also
in einer oder der andern Richtung etwan nicht mehr
mit der Mächtigkeit wirket, wie vorher, deswegen
schon im Ganzen abgenommen haben müsse. Jst die
Kraft des Weinstocks im Ganzen geringer, wenn sie
sich im Sommer durch Blätter, auch neue Zweige und
angesetzte Trauben verbreitet, als im Frühling, wenn
sie überfließet und den Saft heraustreibet? Dieß al-
lein kann es verhindern, daß der gereifte Verstand
nicht so stark mehr bey einzelnen Sachen sich beweiset,
die ihm neu sind, als er sich dabey bewiesen haben
würde, wenn er weniger in die Menge seiner Jdeen-
reihen sich zertheilet hätte.

3.

Wenn ein jeder Anwachs der Seele an einer Sei-
te sich über sie verbreitet, und ihre Kraft auch in an-
dern Richtungen rege macht, was wirket sie denn?
Bringet sie ein neues Vermögen hervor, oder stär-
ket und erhält sie nur das schon in der Natur vorhan-
dene Vermögen dahin, daß es, sobald ein günstiger
Umstand hinzukommt, sich äußern und hervorgehen
kann? Das ist mit andern Worten die Frage, die
man in Hinsicht des Körpers mit besonderm Fleiße un-
tersuchet, und in Hinsicht der Seelenentwickelung noch in
ihrem ganzen Umfange nicht einmal aufgeworfen hat:
ob nämlich die Ausbildung der Vermögen eine Evo-
lution
schon vorhandener Naturanlagen, oder eine
Epigenesis sey, die neue Vermögen hervorbringt,
wozu vorher nicht mehr als die Empfänglichkeit sie an-
nehmen zu können vorhanden war. Die deutschen
Philosophen sind fast alle Epigenesisten bey der Seele,
wie die deutschen Physiologen Evolutionisten bey dem
Körper sind. Hutcheson, Reid, Beattie, Os-
wald,
am meisten aber Home legen viele angeborne

Grund-

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
relative Fertigkeiten angenommen hat, und nun alſo
in einer oder der andern Richtung etwan nicht mehr
mit der Maͤchtigkeit wirket, wie vorher, deswegen
ſchon im Ganzen abgenommen haben muͤſſe. Jſt die
Kraft des Weinſtocks im Ganzen geringer, wenn ſie
ſich im Sommer durch Blaͤtter, auch neue Zweige und
angeſetzte Trauben verbreitet, als im Fruͤhling, wenn
ſie uͤberfließet und den Saft heraustreibet? Dieß al-
lein kann es verhindern, daß der gereifte Verſtand
nicht ſo ſtark mehr bey einzelnen Sachen ſich beweiſet,
die ihm neu ſind, als er ſich dabey bewieſen haben
wuͤrde, wenn er weniger in die Menge ſeiner Jdeen-
reihen ſich zertheilet haͤtte.

3.

Wenn ein jeder Anwachs der Seele an einer Sei-
te ſich uͤber ſie verbreitet, und ihre Kraft auch in an-
dern Richtungen rege macht, was wirket ſie denn?
Bringet ſie ein neues Vermoͤgen hervor, oder ſtaͤr-
ket und erhaͤlt ſie nur das ſchon in der Natur vorhan-
dene Vermoͤgen dahin, daß es, ſobald ein guͤnſtiger
Umſtand hinzukommt, ſich aͤußern und hervorgehen
kann? Das iſt mit andern Worten die Frage, die
man in Hinſicht des Koͤrpers mit beſonderm Fleiße un-
terſuchet, und in Hinſicht der Seelenentwickelung noch in
ihrem ganzen Umfange nicht einmal aufgeworfen hat:
ob naͤmlich die Ausbildung der Vermoͤgen eine Evo-
lution
ſchon vorhandener Naturanlagen, oder eine
Epigeneſis ſey, die neue Vermoͤgen hervorbringt,
wozu vorher nicht mehr als die Empfaͤnglichkeit ſie an-
nehmen zu koͤnnen vorhanden war. Die deutſchen
Philoſophen ſind faſt alle Epigeneſiſten bey der Seele,
wie die deutſchen Phyſiologen Evolutioniſten bey dem
Koͤrper ſind. Hutcheſon, Reid, Beattie, Os-
wald,
am meiſten aber Home legen viele angeborne

Grund-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0464" n="434"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
relative Fertigkeiten angenommen hat, und nun al&#x017F;o<lb/>
in einer oder der andern Richtung etwan nicht mehr<lb/>
mit der Ma&#x0364;chtigkeit wirket, wie vorher, deswegen<lb/>
&#x017F;chon im Ganzen abgenommen haben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. J&#x017F;t die<lb/>
Kraft des Wein&#x017F;tocks im Ganzen geringer, wenn &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich im Sommer durch Bla&#x0364;tter, auch neue Zweige und<lb/>
ange&#x017F;etzte Trauben verbreitet, als im Fru&#x0364;hling, wenn<lb/>
&#x017F;ie u&#x0364;berfließet und den Saft heraustreibet? Dieß al-<lb/>
lein kann es verhindern, daß der gereifte Ver&#x017F;tand<lb/>
nicht &#x017F;o &#x017F;tark mehr bey einzelnen Sachen &#x017F;ich bewei&#x017F;et,<lb/>
die ihm neu &#x017F;ind, als er &#x017F;ich dabey bewie&#x017F;en haben<lb/>
wu&#x0364;rde, wenn er weniger in die Menge &#x017F;einer Jdeen-<lb/>
reihen &#x017F;ich zertheilet ha&#x0364;tte.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>3.</head><lb/>
              <p>Wenn ein jeder Anwachs der Seele an einer Sei-<lb/>
te &#x017F;ich u&#x0364;ber &#x017F;ie verbreitet, und ihre Kraft auch in an-<lb/>
dern Richtungen rege macht, was wirket &#x017F;ie denn?<lb/>
Bringet &#x017F;ie ein <hi rendition="#fr">neues Vermo&#x0364;gen</hi> hervor, oder &#x017F;ta&#x0364;r-<lb/>
ket und erha&#x0364;lt &#x017F;ie nur das &#x017F;chon in der Natur vorhan-<lb/>
dene Vermo&#x0364;gen dahin, daß es, &#x017F;obald ein gu&#x0364;n&#x017F;tiger<lb/>
Um&#x017F;tand hinzukommt, &#x017F;ich a&#x0364;ußern und hervorgehen<lb/>
kann? Das i&#x017F;t mit andern Worten die Frage, die<lb/>
man in Hin&#x017F;icht des Ko&#x0364;rpers mit be&#x017F;onderm Fleiße un-<lb/>
ter&#x017F;uchet, und in Hin&#x017F;icht der Seelenentwickelung noch in<lb/>
ihrem ganzen Umfange nicht einmal aufgeworfen hat:<lb/>
ob na&#x0364;mlich die Ausbildung der Vermo&#x0364;gen eine <hi rendition="#fr">Evo-<lb/>
lution</hi> &#x017F;chon vorhandener Naturanlagen, oder eine<lb/><hi rendition="#fr">Epigene&#x017F;is</hi> &#x017F;ey, die neue Vermo&#x0364;gen hervorbringt,<lb/>
wozu vorher nicht mehr als die Empfa&#x0364;nglichkeit &#x017F;ie an-<lb/>
nehmen zu ko&#x0364;nnen vorhanden war. Die deut&#x017F;chen<lb/>
Philo&#x017F;ophen &#x017F;ind fa&#x017F;t alle Epigene&#x017F;i&#x017F;ten bey der Seele,<lb/>
wie die deut&#x017F;chen Phy&#x017F;iologen Evolutioni&#x017F;ten bey dem<lb/>
Ko&#x0364;rper &#x017F;ind. <hi rendition="#fr">Hutche&#x017F;on, Reid, Beattie, Os-<lb/>
wald,</hi> am mei&#x017F;ten aber <hi rendition="#fr">Home</hi> legen viele angeborne<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Grund-</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[434/0464] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt relative Fertigkeiten angenommen hat, und nun alſo in einer oder der andern Richtung etwan nicht mehr mit der Maͤchtigkeit wirket, wie vorher, deswegen ſchon im Ganzen abgenommen haben muͤſſe. Jſt die Kraft des Weinſtocks im Ganzen geringer, wenn ſie ſich im Sommer durch Blaͤtter, auch neue Zweige und angeſetzte Trauben verbreitet, als im Fruͤhling, wenn ſie uͤberfließet und den Saft heraustreibet? Dieß al- lein kann es verhindern, daß der gereifte Verſtand nicht ſo ſtark mehr bey einzelnen Sachen ſich beweiſet, die ihm neu ſind, als er ſich dabey bewieſen haben wuͤrde, wenn er weniger in die Menge ſeiner Jdeen- reihen ſich zertheilet haͤtte. 3. Wenn ein jeder Anwachs der Seele an einer Sei- te ſich uͤber ſie verbreitet, und ihre Kraft auch in an- dern Richtungen rege macht, was wirket ſie denn? Bringet ſie ein neues Vermoͤgen hervor, oder ſtaͤr- ket und erhaͤlt ſie nur das ſchon in der Natur vorhan- dene Vermoͤgen dahin, daß es, ſobald ein guͤnſtiger Umſtand hinzukommt, ſich aͤußern und hervorgehen kann? Das iſt mit andern Worten die Frage, die man in Hinſicht des Koͤrpers mit beſonderm Fleiße un- terſuchet, und in Hinſicht der Seelenentwickelung noch in ihrem ganzen Umfange nicht einmal aufgeworfen hat: ob naͤmlich die Ausbildung der Vermoͤgen eine Evo- lution ſchon vorhandener Naturanlagen, oder eine Epigeneſis ſey, die neue Vermoͤgen hervorbringt, wozu vorher nicht mehr als die Empfaͤnglichkeit ſie an- nehmen zu koͤnnen vorhanden war. Die deutſchen Philoſophen ſind faſt alle Epigeneſiſten bey der Seele, wie die deutſchen Phyſiologen Evolutioniſten bey dem Koͤrper ſind. Hutcheſon, Reid, Beattie, Os- wald, am meiſten aber Home legen viele angeborne Grund-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/464
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/464>, abgerufen am 21.11.2024.