keinem andern so deutlich und bestimmt entwickelt wor- den. Das Gehirn, das innere Seelenorgan, ist der Sitz der Vorstellungen, und die Seele selbst eine unbe- stimmte Kraft, die in sich und aus sich nichts reprodu- ciren kann. Woraus denn folget, daß zwo menschli- che Seelen ihre Körper umtauschen könnten, ohne die ihnen widerfahrende Veränderung gewahr zu wer- den; was sich sogar auf Thierseelen erstrecken müßte, die in ein menschliches Gehirn versetzet, hier wie Men- schenseelen sich vorstellen, denken und handeln würden, oh- ne zu wissen, was sie vorher gewesen sind. Denn da jedwede Seele ein mit Vorstellungen versehenes Gehirn antreffen würde, von dessen sinnlichen Bewegungen es modificiret wird, und da sie nicht weniger und nicht mehr, noch auf eine andre Art afficiret werden kann, als ihr Vorgänger in derselbigen Wohnung es gewor- den wäre: so behält sie auch nicht die geringsten Merk- zeichen, woran sie wissen könnte, daß sie ehedem an- derswo sich aufgehalten und sich anders befunden habe. Nach der ersten vorhergeprüften Hypothese ist dieß un- möglich. Wenn mein Jch in sich selbst die Spuren von seinen Empfindungen auf behält, so würde es ein neues Organ entweder nicht gebrauchen können, oder wenn es das könnte, eine neue Reihe von Empfindungen und ein neues Leben anfangen. Könnte es in diesem Fall seine vor- her aufgesammelten Jdeen reproduciren, so würde es das Neue seines Zustandes deutlich erkennen. Wenn es aber auch solches nicht könnte, und alles Vorhergehen- de gänzlich vergessen hatte: so würde es doch in dieser neuen Lage so wirken, wie ein Wesen, das ehemals in einer andern gewesen wäre, und davon die Folgen empfinden.
2.
Diese Bonnetische Hypothese verdienet um so mehr eine etwas genauere Prüfung, da sie durch die Ueber-
setzung
Q 4
im Menſchen.
keinem andern ſo deutlich und beſtimmt entwickelt wor- den. Das Gehirn, das innere Seelenorgan, iſt der Sitz der Vorſtellungen, und die Seele ſelbſt eine unbe- ſtimmte Kraft, die in ſich und aus ſich nichts reprodu- ciren kann. Woraus denn folget, daß zwo menſchli- che Seelen ihre Koͤrper umtauſchen koͤnnten, ohne die ihnen widerfahrende Veraͤnderung gewahr zu wer- den; was ſich ſogar auf Thierſeelen erſtrecken muͤßte, die in ein menſchliches Gehirn verſetzet, hier wie Men- ſchenſeelen ſich vorſtellen, denken und handeln wuͤrden, oh- ne zu wiſſen, was ſie vorher geweſen ſind. Denn da jedwede Seele ein mit Vorſtellungen verſehenes Gehirn antreffen wuͤrde, von deſſen ſinnlichen Bewegungen es modificiret wird, und da ſie nicht weniger und nicht mehr, noch auf eine andre Art afficiret werden kann, als ihr Vorgaͤnger in derſelbigen Wohnung es gewor- den waͤre: ſo behaͤlt ſie auch nicht die geringſten Merk- zeichen, woran ſie wiſſen koͤnnte, daß ſie ehedem an- derswo ſich aufgehalten und ſich anders befunden habe. Nach der erſten vorhergepruͤften Hypotheſe iſt dieß un- moͤglich. Wenn mein Jch in ſich ſelbſt die Spuren von ſeinen Empfindungen auf behaͤlt, ſo wuͤrde es ein neues Organ entweder nicht gebrauchen koͤnnen, oder wenn es das koͤnnte, eine neue Reihe von Empfindungen und ein neues Leben anfangen. Koͤnnte es in dieſem Fall ſeine vor- her aufgeſammelten Jdeen reproduciren, ſo wuͤrde es das Neue ſeines Zuſtandes deutlich erkennen. Wenn es aber auch ſolches nicht koͤnnte, und alles Vorhergehen- de gaͤnzlich vergeſſen hatte: ſo wuͤrde es doch in dieſer neuen Lage ſo wirken, wie ein Weſen, das ehemals in einer andern geweſen waͤre, und davon die Folgen empfinden.
2.
Dieſe Bonnetiſche Hypotheſe verdienet um ſo mehr eine etwas genauere Pruͤfung, da ſie durch die Ueber-
ſetzung
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im Menſchen.
keinem andern ſo deutlich und beſtimmt entwickelt wor-
den. Das Gehirn, das innere Seelenorgan, iſt der
Sitz der Vorſtellungen, und die Seele ſelbſt eine unbe-
ſtimmte Kraft, die in ſich und aus ſich nichts reprodu-
ciren kann. Woraus denn folget, daß zwo menſchli-
che Seelen ihre Koͤrper umtauſchen koͤnnten, ohne
die ihnen widerfahrende Veraͤnderung gewahr zu wer-
den; was ſich ſogar auf Thierſeelen erſtrecken muͤßte,
die in ein menſchliches Gehirn verſetzet, hier wie Men-
ſchenſeelen ſich vorſtellen, denken und handeln wuͤrden, oh-
ne zu wiſſen, was ſie vorher geweſen ſind. Denn da
jedwede Seele ein mit Vorſtellungen verſehenes Gehirn
antreffen wuͤrde, von deſſen ſinnlichen Bewegungen es
modificiret wird, und da ſie nicht weniger und nicht
mehr, noch auf eine andre Art afficiret werden kann,
als ihr Vorgaͤnger in derſelbigen Wohnung es gewor-
den waͤre: ſo behaͤlt ſie auch nicht die geringſten Merk-
zeichen, woran ſie wiſſen koͤnnte, daß ſie ehedem an-
derswo ſich aufgehalten und ſich anders befunden habe.
Nach der erſten vorhergepruͤften Hypotheſe iſt dieß un-
moͤglich. Wenn mein Jch in ſich ſelbſt die Spuren von
ſeinen Empfindungen auf behaͤlt, ſo wuͤrde es ein neues
Organ entweder nicht gebrauchen koͤnnen, oder wenn es das
koͤnnte, eine neue Reihe von Empfindungen und ein neues
Leben anfangen. Koͤnnte es in dieſem Fall ſeine vor-
her aufgeſammelten Jdeen reproduciren, ſo wuͤrde es das
Neue ſeines Zuſtandes deutlich erkennen. Wenn es
aber auch ſolches nicht koͤnnte, und alles Vorhergehen-
de gaͤnzlich vergeſſen hatte: ſo wuͤrde es doch in dieſer
neuen Lage ſo wirken, wie ein Weſen, das ehemals
in einer andern geweſen waͤre, und davon die Folgen
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/277>, abgerufen am 23.02.2025.
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