also auch in der vorzüglichen Modifikabilität und in der größern innern Stärke der thätigen Kraft, einen Grundcharakter der menschlichen Seele auch bis in die entfernteste Urkraft hin zu erkennen. Und es ließe sich hiemit wohl vereinigen, daß die mit minderer Selbst- macht in ihrer Grundkraft versehene Thierseelen, den- noch in Hinsicht der schon entwickelten Selbstmacht bey ihrer Geburt einen Vorsprung vor den Menschenseelen voraus haben, wie die einjährige Weide vor der einjäh- rigen Eiche voraus hat. Aber ich überlasse andern diese Hypothese als eine Vermuthung, die ihren Grund in ei- ner Spekulation über Kräfte und Vermögen hat, die ich zur Zeit aber weder durch eine evidente Demonstration zu erweisen, noch durch eine einleuchtende Analogie wahrscheinlich zu machen weis.
4.
Jst nun aber gleich ein höherer Grad innerer Re- ceptivität und Perfektibilität der Selbstmacht ein Grund- charakter der Menschheit, so verdienet noch dieß eine Un- tersuchung, ob solcher vollständig und bestimmt genug sey? Es verräth sich bald, was hieran noch fehle. Wie groß soll denn dieser Vorzug seyn, und welches ist das Maaß, wodurch die Größe desselben angegeben, und ihr Abstand von dem Grade in den Thierseelen be- stimmet werden kann? Höchstens kann man so viel sa- gen; jene könne bis zur Vernunft und Freyheit entwi- ckelt werden, die Thierkraft nicht. Aber wie weit ist denn das Größte in der thierischen Entwickelung unter dem Größten in der menschlichen?
Wie viele Fragen bleiben hier noch mehr zurück, auf die ich keine Antwort weiß. Jst nun der Unterschied zwischen Menschen und Thieren blos ein Stufenunter- schied? oder ist Verschiedenartigkeit da? *) Jst der
Stufen-
*) Man sehe den ersten Versuch.XVI. 1. 2. 3.
B b b 5
der menſchlichen Seele ⁊c.
alſo auch in der vorzuͤglichen Modifikabilitaͤt und in der groͤßern innern Staͤrke der thaͤtigen Kraft, einen Grundcharakter der menſchlichen Seele auch bis in die entfernteſte Urkraft hin zu erkennen. Und es ließe ſich hiemit wohl vereinigen, daß die mit minderer Selbſt- macht in ihrer Grundkraft verſehene Thierſeelen, den- noch in Hinſicht der ſchon entwickelten Selbſtmacht bey ihrer Geburt einen Vorſprung vor den Menſchenſeelen voraus haben, wie die einjaͤhrige Weide vor der einjaͤh- rigen Eiche voraus hat. Aber ich uͤberlaſſe andern dieſe Hypotheſe als eine Vermuthung, die ihren Grund in ei- ner Spekulation uͤber Kraͤfte und Vermoͤgen hat, die ich zur Zeit aber weder durch eine evidente Demonſtration zu erweiſen, noch durch eine einleuchtende Analogie wahrſcheinlich zu machen weis.
4.
Jſt nun aber gleich ein hoͤherer Grad innerer Re- ceptivitaͤt und Perfektibilitaͤt der Selbſtmacht ein Grund- charakter der Menſchheit, ſo verdienet noch dieß eine Un- terſuchung, ob ſolcher vollſtaͤndig und beſtimmt genug ſey? Es verraͤth ſich bald, was hieran noch fehle. Wie groß ſoll denn dieſer Vorzug ſeyn, und welches iſt das Maaß, wodurch die Groͤße deſſelben angegeben, und ihr Abſtand von dem Grade in den Thierſeelen be- ſtimmet werden kann? Hoͤchſtens kann man ſo viel ſa- gen; jene koͤnne bis zur Vernunft und Freyheit entwi- ckelt werden, die Thierkraft nicht. Aber wie weit iſt denn das Groͤßte in der thieriſchen Entwickelung unter dem Groͤßten in der menſchlichen?
Wie viele Fragen bleiben hier noch mehr zuruͤck, auf die ich keine Antwort weiß. Jſt nun der Unterſchied zwiſchen Menſchen und Thieren blos ein Stufenunter- ſchied? oder iſt Verſchiedenartigkeit da? *) Jſt der
Stufen-
*) Man ſehe den erſten Verſuch.XVI. 1. 2. 3.
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der menſchlichen Seele ⁊c.
alſo auch in der vorzuͤglichen Modifikabilitaͤt und
in der groͤßern innern Staͤrke der thaͤtigen Kraft,
einen Grundcharakter der menſchlichen Seele auch bis in
die entfernteſte Urkraft hin zu erkennen. Und es ließe
ſich hiemit wohl vereinigen, daß die mit minderer Selbſt-
macht in ihrer Grundkraft verſehene Thierſeelen, den-
noch in Hinſicht der ſchon entwickelten Selbſtmacht bey
ihrer Geburt einen Vorſprung vor den Menſchenſeelen
voraus haben, wie die einjaͤhrige Weide vor der einjaͤh-
rigen Eiche voraus hat. Aber ich uͤberlaſſe andern dieſe
Hypotheſe als eine Vermuthung, die ihren Grund in ei-
ner Spekulation uͤber Kraͤfte und Vermoͤgen hat, die ich
zur Zeit aber weder durch eine evidente Demonſtration
zu erweiſen, noch durch eine einleuchtende Analogie
wahrſcheinlich zu machen weis.
4.
Jſt nun aber gleich ein hoͤherer Grad innerer Re-
ceptivitaͤt und Perfektibilitaͤt der Selbſtmacht ein Grund-
charakter der Menſchheit, ſo verdienet noch dieß eine Un-
terſuchung, ob ſolcher vollſtaͤndig und beſtimmt genug
ſey? Es verraͤth ſich bald, was hieran noch fehle.
Wie groß ſoll denn dieſer Vorzug ſeyn, und welches
iſt das Maaß, wodurch die Groͤße deſſelben angegeben,
und ihr Abſtand von dem Grade in den Thierſeelen be-
ſtimmet werden kann? Hoͤchſtens kann man ſo viel ſa-
gen; jene koͤnne bis zur Vernunft und Freyheit entwi-
ckelt werden, die Thierkraft nicht. Aber wie weit iſt
denn das Groͤßte in der thieriſchen Entwickelung unter
dem Groͤßten in der menſchlichen?
Wie viele Fragen bleiben hier noch mehr zuruͤck, auf
die ich keine Antwort weiß. Jſt nun der Unterſchied
zwiſchen Menſchen und Thieren blos ein Stufenunter-
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Stufen-
*) Man ſehe den erſten Verſuch. XVI. 1. 2. 3.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 761. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/821>, abgerufen am 21.11.2024.
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