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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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XI. Versuch. Ueber die Grundkraft
4.

Der sel. Reimarus glaubte in dem Reflexions-
vermögen,
oder, wie er sich erklärte, in dem Vermö-
gen, Dinge in der Vorstellung gegen einander zu ver-
gleichen, die eigentliche Wurzel gefunden zu haben, wor-
aus des Menschen Vorzüge vor den Thieren hervor-
sprießen. Diese Reflexionsfähigkeit war der Anfang
der Vernunft und der wahre Grundcharakter des ver-
nünftigen Menschen, von dem seine übrigen Vollkom-
menheiten nur Folgen und Wirkungen sind. Jch geste-
he es, ich habe schon an andern Stellen es erkläret, daß
mir die Raisonnements dieses scharfsinnigen und würdi-
gen Mannes über die Natur des menschlichen Verstan-
des nicht eindringend genug zu seyn scheinen. Eben so
kommt es mir auch hier vor. Dieß benimmt der vor-
züglichen Hochachtung nichts, die ich für diesen Philo-
sophen hege, und die Deutschland, wie ich glaube, im-
mer für ihn hegen wird, als für einen Mann, der tiefe
metaphysische Theorien mit einer ausgebreiteten Erfah-
rungskenntniß verband, und jene auf diese so anwandte,
wie es ihre wahre Bestimmung erfodert, um helle und
feststehende Einsichten in die wirkliche Natur, in ihre
Beziehung auf den Schöpfer, und in den Zusammen-
hang ihrer Theile unter einander und mit den Menschen,
als das schätzbarste Kleinod für den Menschenverstand,
zu befördern, zu vergrößern, und auszubreiten. Was
ich über den von ihm angegebenen Grundcharakter des
Menschen zu erinnern habe, ist folgendes.

Ob das, was Reimarus Reflexion nennet, die
erste ursprüngliche Aeußerung der Denkkraft sey, und
also ein Grundvermögen in Hinsicht des Verstandes und
der Vernunft darstelle, will ich hier nicht untersuchen,
und verweise auf die obigen Betrachtungen über das Ge-
wahrnehmen und über die Denkkraft. Aber ist denn

völlig
XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft
4.

Der ſel. Reimarus glaubte in dem Reflexions-
vermoͤgen,
oder, wie er ſich erklaͤrte, in dem Vermoͤ-
gen, Dinge in der Vorſtellung gegen einander zu ver-
gleichen, die eigentliche Wurzel gefunden zu haben, wor-
aus des Menſchen Vorzuͤge vor den Thieren hervor-
ſprießen. Dieſe Reflexionsfaͤhigkeit war der Anfang
der Vernunft und der wahre Grundcharakter des ver-
nuͤnftigen Menſchen, von dem ſeine uͤbrigen Vollkom-
menheiten nur Folgen und Wirkungen ſind. Jch geſte-
he es, ich habe ſchon an andern Stellen es erklaͤret, daß
mir die Raiſonnements dieſes ſcharfſinnigen und wuͤrdi-
gen Mannes uͤber die Natur des menſchlichen Verſtan-
des nicht eindringend genug zu ſeyn ſcheinen. Eben ſo
kommt es mir auch hier vor. Dieß benimmt der vor-
zuͤglichen Hochachtung nichts, die ich fuͤr dieſen Philo-
ſophen hege, und die Deutſchland, wie ich glaube, im-
mer fuͤr ihn hegen wird, als fuͤr einen Mann, der tiefe
metaphyſiſche Theorien mit einer ausgebreiteten Erfah-
rungskenntniß verband, und jene auf dieſe ſo anwandte,
wie es ihre wahre Beſtimmung erfodert, um helle und
feſtſtehende Einſichten in die wirkliche Natur, in ihre
Beziehung auf den Schoͤpfer, und in den Zuſammen-
hang ihrer Theile unter einander und mit den Menſchen,
als das ſchaͤtzbarſte Kleinod fuͤr den Menſchenverſtand,
zu befoͤrdern, zu vergroͤßern, und auszubreiten. Was
ich uͤber den von ihm angegebenen Grundcharakter des
Menſchen zu erinnern habe, iſt folgendes.

Ob das, was Reimarus Reflexion nennet, die
erſte urſpruͤngliche Aeußerung der Denkkraft ſey, und
alſo ein Grundvermoͤgen in Hinſicht des Verſtandes und
der Vernunft darſtelle, will ich hier nicht unterſuchen,
und verweiſe auf die obigen Betrachtungen uͤber das Ge-
wahrnehmen und uͤber die Denkkraft. Aber iſt denn

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[744/0804] XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft 4. Der ſel. Reimarus glaubte in dem Reflexions- vermoͤgen, oder, wie er ſich erklaͤrte, in dem Vermoͤ- gen, Dinge in der Vorſtellung gegen einander zu ver- gleichen, die eigentliche Wurzel gefunden zu haben, wor- aus des Menſchen Vorzuͤge vor den Thieren hervor- ſprießen. Dieſe Reflexionsfaͤhigkeit war der Anfang der Vernunft und der wahre Grundcharakter des ver- nuͤnftigen Menſchen, von dem ſeine uͤbrigen Vollkom- menheiten nur Folgen und Wirkungen ſind. Jch geſte- he es, ich habe ſchon an andern Stellen es erklaͤret, daß mir die Raiſonnements dieſes ſcharfſinnigen und wuͤrdi- gen Mannes uͤber die Natur des menſchlichen Verſtan- des nicht eindringend genug zu ſeyn ſcheinen. Eben ſo kommt es mir auch hier vor. Dieß benimmt der vor- zuͤglichen Hochachtung nichts, die ich fuͤr dieſen Philo- ſophen hege, und die Deutſchland, wie ich glaube, im- mer fuͤr ihn hegen wird, als fuͤr einen Mann, der tiefe metaphyſiſche Theorien mit einer ausgebreiteten Erfah- rungskenntniß verband, und jene auf dieſe ſo anwandte, wie es ihre wahre Beſtimmung erfodert, um helle und feſtſtehende Einſichten in die wirkliche Natur, in ihre Beziehung auf den Schoͤpfer, und in den Zuſammen- hang ihrer Theile unter einander und mit den Menſchen, als das ſchaͤtzbarſte Kleinod fuͤr den Menſchenverſtand, zu befoͤrdern, zu vergroͤßern, und auszubreiten. Was ich uͤber den von ihm angegebenen Grundcharakter des Menſchen zu erinnern habe, iſt folgendes. Ob das, was Reimarus Reflexion nennet, die erſte urſpruͤngliche Aeußerung der Denkkraft ſey, und alſo ein Grundvermoͤgen in Hinſicht des Verſtandes und der Vernunft darſtelle, will ich hier nicht unterſuchen, und verweiſe auf die obigen Betrachtungen uͤber das Ge- wahrnehmen und uͤber die Denkkraft. Aber iſt denn voͤllig

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 744. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/804>, abgerufen am 21.11.2024.