Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

X. Versuch. Ueber die Beziehung
als Mittel, das Mißvergnügen leichter, auch in der
Ferne, kennen zu lernen, damit man sich desto ehe dafür
hüten könne; oder endlich wenn sie selbst in der Vor-
stellung geschwächet, ihre Natur verändern, und zu an-
genehmen Empfindnissen werden. *) Jn den ersten
Fällen bleiben sie, was sie sind, nemlich kleinere Uebel,
die man entweder gerne zuläßt, und wünschet, um des
stärkern Guten willen, das sie veranlassen, oder die
man doch zulassen muß. Aber nie werden sie dadurch
natürliche und ursprüngliche Triebfedern, wodurch die
Seele an der Seite ihrer Empfindsamkeit entwickelt
würde.

7.

Endlich sind es die unangenehmen lebhaften
Empfindungen,
welche die unmittelbaren Reize für
die Thätigkeitskraft in sich enthalten. Bedörfniß ist die
große Triebfeder unserer Natur. Jst der Zustand un-
angenehm, so erfolget das Bestreben solchen zu verän-
dern. Jenen will man nicht fortsetzen, sondern weg-
schaffen, und einen andern hervorbringen, das ist, eine
neue Modifikation bewirken.

Die unangenehmen Empfindungen können unter zwo
allgemeine Klassen gebracht werden. Jch setze voraus,
daß die Ursache dieser ihrer Beschaffenheit in ihrer Dis-
proportion mit den Vermögen und Kräften bestehe, so
wie die letztern zu der Zeit sich befinden, wenn die Jm-
pressionen hinzukommen. Dem Müden ist die Ruhe
ein Balsam, da die Unthätigkeit bey frischen und regen
Kräften die unausstehlichste Langeweile hervorbringet.
Erfodert also das Vergnügen ein gewisses Ebenmaaß
der Modifikation zu dem gegenwärtigen Zustand der
Seele, zu ihren Kräften, Vermögen und Beschäfti-

gungen,
*) Zweeter Versuch. VII. 5.

X. Verſuch. Ueber die Beziehung
als Mittel, das Mißvergnuͤgen leichter, auch in der
Ferne, kennen zu lernen, damit man ſich deſto ehe dafuͤr
huͤten koͤnne; oder endlich wenn ſie ſelbſt in der Vor-
ſtellung geſchwaͤchet, ihre Natur veraͤndern, und zu an-
genehmen Empfindniſſen werden. *) Jn den erſten
Faͤllen bleiben ſie, was ſie ſind, nemlich kleinere Uebel,
die man entweder gerne zulaͤßt, und wuͤnſchet, um des
ſtaͤrkern Guten willen, das ſie veranlaſſen, oder die
man doch zulaſſen muß. Aber nie werden ſie dadurch
natuͤrliche und urſpruͤngliche Triebfedern, wodurch die
Seele an der Seite ihrer Empfindſamkeit entwickelt
wuͤrde.

7.

Endlich ſind es die unangenehmen lebhaften
Empfindungen,
welche die unmittelbaren Reize fuͤr
die Thaͤtigkeitskraft in ſich enthalten. Bedoͤrfniß iſt die
große Triebfeder unſerer Natur. Jſt der Zuſtand un-
angenehm, ſo erfolget das Beſtreben ſolchen zu veraͤn-
dern. Jenen will man nicht fortſetzen, ſondern weg-
ſchaffen, und einen andern hervorbringen, das iſt, eine
neue Modifikation bewirken.

Die unangenehmen Empfindungen koͤnnen unter zwo
allgemeine Klaſſen gebracht werden. Jch ſetze voraus,
daß die Urſache dieſer ihrer Beſchaffenheit in ihrer Dis-
proportion mit den Vermoͤgen und Kraͤften beſtehe, ſo
wie die letztern zu der Zeit ſich befinden, wenn die Jm-
preſſionen hinzukommen. Dem Muͤden iſt die Ruhe
ein Balſam, da die Unthaͤtigkeit bey friſchen und regen
Kraͤften die unausſtehlichſte Langeweile hervorbringet.
Erfodert alſo das Vergnuͤgen ein gewiſſes Ebenmaaß
der Modifikation zu dem gegenwaͤrtigen Zuſtand der
Seele, zu ihren Kraͤften, Vermoͤgen und Beſchaͤfti-

gungen,
*) Zweeter Verſuch. VII. 5.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0784" n="724"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">X.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Beziehung</hi></fw><lb/>
als Mittel, das Mißvergnu&#x0364;gen leichter, auch in der<lb/>
Ferne, kennen zu lernen, damit man &#x017F;ich de&#x017F;to ehe dafu&#x0364;r<lb/>
hu&#x0364;ten ko&#x0364;nne; oder endlich wenn &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t in der Vor-<lb/>
&#x017F;tellung ge&#x017F;chwa&#x0364;chet, ihre Natur vera&#x0364;ndern, und zu an-<lb/>
genehmen Empfindni&#x017F;&#x017F;en werden. <note place="foot" n="*)">Zweeter <hi rendition="#fr">Ver&#x017F;uch.</hi> <hi rendition="#aq">VII.</hi> 5.</note> Jn den er&#x017F;ten<lb/>
Fa&#x0364;llen bleiben &#x017F;ie, was &#x017F;ie &#x017F;ind, nemlich kleinere Uebel,<lb/>
die man entweder gerne zula&#x0364;ßt, und wu&#x0364;n&#x017F;chet, um des<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;rkern Guten willen, das &#x017F;ie veranla&#x017F;&#x017F;en, oder die<lb/>
man doch zula&#x017F;&#x017F;en muß. Aber nie werden &#x017F;ie dadurch<lb/>
natu&#x0364;rliche und ur&#x017F;pru&#x0364;ngliche Triebfedern, wodurch die<lb/>
Seele an der Seite ihrer Empfind&#x017F;amkeit entwickelt<lb/>
wu&#x0364;rde.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>7.</head><lb/>
            <p>Endlich &#x017F;ind es die <hi rendition="#fr">unangenehmen lebhaften<lb/>
Empfindungen,</hi> welche die unmittelbaren Reize fu&#x0364;r<lb/>
die Tha&#x0364;tigkeitskraft in &#x017F;ich enthalten. Bedo&#x0364;rfniß i&#x017F;t die<lb/>
große Triebfeder un&#x017F;erer Natur. J&#x017F;t der Zu&#x017F;tand un-<lb/>
angenehm, &#x017F;o erfolget das Be&#x017F;treben &#x017F;olchen zu vera&#x0364;n-<lb/>
dern. Jenen will man nicht fort&#x017F;etzen, &#x017F;ondern weg-<lb/>
&#x017F;chaffen, und einen andern hervorbringen, das i&#x017F;t, eine<lb/>
neue Modifikation bewirken.</p><lb/>
            <p>Die unangenehmen Empfindungen ko&#x0364;nnen unter zwo<lb/>
allgemeine Kla&#x017F;&#x017F;en gebracht werden. Jch &#x017F;etze voraus,<lb/>
daß die Ur&#x017F;ache die&#x017F;er ihrer Be&#x017F;chaffenheit in ihrer Dis-<lb/>
proportion mit den Vermo&#x0364;gen und Kra&#x0364;ften be&#x017F;tehe, &#x017F;o<lb/>
wie die letztern zu der Zeit &#x017F;ich befinden, wenn die Jm-<lb/>
pre&#x017F;&#x017F;ionen hinzukommen. Dem Mu&#x0364;den i&#x017F;t die Ruhe<lb/>
ein Bal&#x017F;am, da die Untha&#x0364;tigkeit bey fri&#x017F;chen und regen<lb/>
Kra&#x0364;ften die unaus&#x017F;tehlich&#x017F;te Langeweile hervorbringet.<lb/>
Erfodert al&#x017F;o das Vergnu&#x0364;gen ein gewi&#x017F;&#x017F;es Ebenmaaß<lb/>
der Modifikation zu dem gegenwa&#x0364;rtigen Zu&#x017F;tand der<lb/>
Seele, zu ihren Kra&#x0364;ften, Vermo&#x0364;gen und Be&#x017F;cha&#x0364;fti-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gungen,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[724/0784] X. Verſuch. Ueber die Beziehung als Mittel, das Mißvergnuͤgen leichter, auch in der Ferne, kennen zu lernen, damit man ſich deſto ehe dafuͤr huͤten koͤnne; oder endlich wenn ſie ſelbſt in der Vor- ſtellung geſchwaͤchet, ihre Natur veraͤndern, und zu an- genehmen Empfindniſſen werden. *) Jn den erſten Faͤllen bleiben ſie, was ſie ſind, nemlich kleinere Uebel, die man entweder gerne zulaͤßt, und wuͤnſchet, um des ſtaͤrkern Guten willen, das ſie veranlaſſen, oder die man doch zulaſſen muß. Aber nie werden ſie dadurch natuͤrliche und urſpruͤngliche Triebfedern, wodurch die Seele an der Seite ihrer Empfindſamkeit entwickelt wuͤrde. 7. Endlich ſind es die unangenehmen lebhaften Empfindungen, welche die unmittelbaren Reize fuͤr die Thaͤtigkeitskraft in ſich enthalten. Bedoͤrfniß iſt die große Triebfeder unſerer Natur. Jſt der Zuſtand un- angenehm, ſo erfolget das Beſtreben ſolchen zu veraͤn- dern. Jenen will man nicht fortſetzen, ſondern weg- ſchaffen, und einen andern hervorbringen, das iſt, eine neue Modifikation bewirken. Die unangenehmen Empfindungen koͤnnen unter zwo allgemeine Klaſſen gebracht werden. Jch ſetze voraus, daß die Urſache dieſer ihrer Beſchaffenheit in ihrer Dis- proportion mit den Vermoͤgen und Kraͤften beſtehe, ſo wie die letztern zu der Zeit ſich befinden, wenn die Jm- preſſionen hinzukommen. Dem Muͤden iſt die Ruhe ein Balſam, da die Unthaͤtigkeit bey friſchen und regen Kraͤften die unausſtehlichſte Langeweile hervorbringet. Erfodert alſo das Vergnuͤgen ein gewiſſes Ebenmaaß der Modifikation zu dem gegenwaͤrtigen Zuſtand der Seele, zu ihren Kraͤften, Vermoͤgen und Beſchaͤfti- gungen, *) Zweeter Verſuch. VII. 5.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/784
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 724. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/784>, abgerufen am 21.12.2024.