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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kün
und innern Sinnen auf das kräftigsie reizet. Wenn
der gemeine Mensch die in ihm sitzende Empfin-
dung unüberlegt durch Gang und Gebehrden äus-
sert; so giebt der Tänzer diesem Gang und diesen
Gebehrden Schönheit und Ordnung. Also blei-
bet über das Wesen der schönen Künste kein Zwei-
fel übrig.

Eben so gewiß besteht ihr unmittelbarer erster
Zwek in einer lebhaften Rührung. Sie begnügen
sich nicht damit, daß wir das, was sie uns vorle-
gen, schlechtweg erkennen, oder deutlich fassen; es
soll Geist und Herz in einige Bewegung setzen.
Darum bearbeiten sie jeden Gegenstand so, wie er
den Sinnen und der Einbildungskraft am meisten
schmeichelt. Selbst da, wo sie schmerzhafte Sta-
cheln in die Seele steken wollen, schmeicheln sie dem
Ohr durch Wolklang und Harmonie, dem Auge
durch schöne Formen, durch reizende Abwechslung
des Lichts und Schattens und durch den Glanz der
Farben. Sie lachen selbst da, wo sie unser Herz
mit Bitterkeit erfüllen wollen. Dadurch zwingen
sie uns, uns den Eindrücken der Gegenstände zu
überlassen, und bemächtigen sich also aller sinnlichen
Kräfte der Seele. Sie sind die Syrenen, deren
Gesang niemand zu widerstehen vermag.

Aber diese Feßlung der Gemüther ist noch einem
höhern Zwecke untergeordnet, der nur durch eine
gute Anwendung der Zauberkraft der schönen Künste
erreicht wird. Ohne diese Lenkung zum höhern
Zweck, wären die Musen verführerische Buhlerin-
nen. Wer kann einen Augenblick daran zweifeln,
daß die Natur das Gefühl des sinnlichen Reizes
unserm Geist nicht in einer höhern Absicht gegeben,
als uns zu schmeicheln, oder uns blos zum unüber-
legten Genuß desselben zu locken? Wenn sich kein
Mensch untersteht zu behaupten, daß die Natur uns
das Gefühl des Schmerzens, in der Absicht gegeben
habe, uns zu quälen; so muß man sich auch nicht
einbilden, daß das Gefühl des Angenehmen, blos
einen vorübergehenden Kützel zur letzten Absicht habe.
Nur schwachen Köpfen kann es unbemerkt bleiben,
daß in der ganzen Natur alles auf Vollkommenheit
und Würksamkeit abzielt. Und nur durchaus leicht-
sinnige Künstler können sich einbilden, ihren Beruf
erfüllt zu haben, wenn sie ohne ein höheres Ziel die
sinnlichen Kräfte der Seele mit angenehmen Bildern
gereizt haben.

[Spaltenumbruch]
Kün

Wir haben vorher angemerkt, was auch ohne-
dem offenbar am Tage liegt, wozu die Natur den
Reiz der Schönheit anwendet. Ueberall ist sie das
Zeichen und die Lockspeise des Guten. So bedienen
sich auch die schönen Künste ihrer Reizungen, um
unsre Aufmerksamkeit auf das Gute zu ziehen und
uns mit Liebe für dasselbe zu rühren. Nur durch
diese Anwendung werden sie dem menschlichen Ge-
schlecht wichtig und verdienen die Aufmerksamkeit
des Weisen und die Pflege des Regenten. Durch die
Vorsorge einer weisen Politik, werden sie die vor-
nehmsten Werkzeuge zur Glükseligkeit der Menschen.

Man setze, daß die schönen Künste in der Voll-
kommenheit, deren sie fähig sind, bey einem Volke
eingeführt und allgemein worden seyen, und über-
lege, was für mannigfaltige Vortheile ihm daher
zufließen würden. Alles was man in einem solchen
Lande um sich sieht, und was man höret, hat das
Gepräge der Schönheit und Anmuthigkeit. Die
Wohnplätze der Menschen, ihre Häuser, alles was
sie brauchen, was sie um sich und an sich haben,
und fürnehmlich das unentbehrliche und wunderbare
Werkzeug, seine Gedanken und Empfindungen an-
dern mitzutheilen, ist hier durch den Einfluß des
guten Geschmaks und Bearbeitung des Genies
schön und vollkommen. Nirgend kann sich das
Auge hinwenden, und nichts kann das Auge ver-
nehmen, daß nicht zugleich die innern Sinnen von
dem Gefühl der Ordnung, der Vollkommenheit, der
Schiklichkeit gerührt werde. Alles reizt den Geist
zu Beobachtung solcher Dinge, wodurch er selbst
seine Ausbildung bekommt, und alles flößet dem
Herzen durch die angenehmen Empfindungen, die
von jedem Gegenstand erwekt werden, ein sanftes
Gefühl ein. Was in den paradiesischen Gegenden
des Erdbodens die Natur thut, das thun die schö-
nen Künste da, wo sie sich in ihrem unverdorbenen
Schmuk zeigen. (*) Jn dem Menschen, dessen Geist
und Herz so unaufhörlich von allen Arten des Voll-
kommenen gereizt und gerührt werden, entsteht
nothwendig eine Entwiklung und allmählige Ver-
feinerung aller Seelenkräfte. Die Dummheit und
Unempfindlichkeit des rohen natürlichen Menschen
verschwindet nach und nach; und aus einem Thier,
das vielleicht eben so wild war, als irgend ein an-
deres, wird ein Mensch gebildet, dessen Geist reich
an Annehmlichkeiten und dessen Gemüthsart liebens-
würdig ist.

So
(*) S.
Baukunst.

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Kuͤn
und innern Sinnen auf das kraͤftigſie reizet. Wenn
der gemeine Menſch die in ihm ſitzende Empfin-
dung unuͤberlegt durch Gang und Gebehrden aͤuſ-
ſert; ſo giebt der Taͤnzer dieſem Gang und dieſen
Gebehrden Schoͤnheit und Ordnung. Alſo blei-
bet uͤber das Weſen der ſchoͤnen Kuͤnſte kein Zwei-
fel uͤbrig.

Eben ſo gewiß beſteht ihr unmittelbarer erſter
Zwek in einer lebhaften Ruͤhrung. Sie begnuͤgen
ſich nicht damit, daß wir das, was ſie uns vorle-
gen, ſchlechtweg erkennen, oder deutlich faſſen; es
ſoll Geiſt und Herz in einige Bewegung ſetzen.
Darum bearbeiten ſie jeden Gegenſtand ſo, wie er
den Sinnen und der Einbildungskraft am meiſten
ſchmeichelt. Selbſt da, wo ſie ſchmerzhafte Sta-
cheln in die Seele ſteken wollen, ſchmeicheln ſie dem
Ohr durch Wolklang und Harmonie, dem Auge
durch ſchoͤne Formen, durch reizende Abwechslung
des Lichts und Schattens und durch den Glanz der
Farben. Sie lachen ſelbſt da, wo ſie unſer Herz
mit Bitterkeit erfuͤllen wollen. Dadurch zwingen
ſie uns, uns den Eindruͤcken der Gegenſtaͤnde zu
uͤberlaſſen, und bemaͤchtigen ſich alſo aller ſinnlichen
Kraͤfte der Seele. Sie ſind die Syrenen, deren
Geſang niemand zu widerſtehen vermag.

Aber dieſe Feßlung der Gemuͤther iſt noch einem
hoͤhern Zwecke untergeordnet, der nur durch eine
gute Anwendung der Zauberkraft der ſchoͤnen Kuͤnſte
erreicht wird. Ohne dieſe Lenkung zum hoͤhern
Zweck, waͤren die Muſen verfuͤhreriſche Buhlerin-
nen. Wer kann einen Augenblick daran zweifeln,
daß die Natur das Gefuͤhl des ſinnlichen Reizes
unſerm Geiſt nicht in einer hoͤhern Abſicht gegeben,
als uns zu ſchmeicheln, oder uns blos zum unuͤber-
legten Genuß deſſelben zu locken? Wenn ſich kein
Menſch unterſteht zu behaupten, daß die Natur uns
das Gefuͤhl des Schmerzens, in der Abſicht gegeben
habe, uns zu quaͤlen; ſo muß man ſich auch nicht
einbilden, daß das Gefuͤhl des Angenehmen, blos
einen voruͤbergehenden Kuͤtzel zur letzten Abſicht habe.
Nur ſchwachen Koͤpfen kann es unbemerkt bleiben,
daß in der ganzen Natur alles auf Vollkommenheit
und Wuͤrkſamkeit abzielt. Und nur durchaus leicht-
ſinnige Kuͤnſtler koͤnnen ſich einbilden, ihren Beruf
erfuͤllt zu haben, wenn ſie ohne ein hoͤheres Ziel die
ſinnlichen Kraͤfte der Seele mit angenehmen Bildern
gereizt haben.

[Spaltenumbruch]
Kuͤn

Wir haben vorher angemerkt, was auch ohne-
dem offenbar am Tage liegt, wozu die Natur den
Reiz der Schoͤnheit anwendet. Ueberall iſt ſie das
Zeichen und die Lockſpeiſe des Guten. So bedienen
ſich auch die ſchoͤnen Kuͤnſte ihrer Reizungen, um
unſre Aufmerkſamkeit auf das Gute zu ziehen und
uns mit Liebe fuͤr daſſelbe zu ruͤhren. Nur durch
dieſe Anwendung werden ſie dem menſchlichen Ge-
ſchlecht wichtig und verdienen die Aufmerkſamkeit
des Weiſen und die Pflege des Regenten. Durch die
Vorſorge einer weiſen Politik, werden ſie die vor-
nehmſten Werkzeuge zur Gluͤkſeligkeit der Menſchen.

Man ſetze, daß die ſchoͤnen Kuͤnſte in der Voll-
kommenheit, deren ſie faͤhig ſind, bey einem Volke
eingefuͤhrt und allgemein worden ſeyen, und uͤber-
lege, was fuͤr mannigfaltige Vortheile ihm daher
zufließen wuͤrden. Alles was man in einem ſolchen
Lande um ſich ſieht, und was man hoͤret, hat das
Gepraͤge der Schoͤnheit und Anmuthigkeit. Die
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ſie brauchen, was ſie um ſich und an ſich haben,
und fuͤrnehmlich das unentbehrliche und wunderbare
Werkzeug, ſeine Gedanken und Empfindungen an-
dern mitzutheilen, iſt hier durch den Einfluß des
guten Geſchmaks und Bearbeitung des Genies
ſchoͤn und vollkommen. Nirgend kann ſich das
Auge hinwenden, und nichts kann das Auge ver-
nehmen, daß nicht zugleich die innern Sinnen von
dem Gefuͤhl der Ordnung, der Vollkommenheit, der
Schiklichkeit geruͤhrt werde. Alles reizt den Geiſt
zu Beobachtung ſolcher Dinge, wodurch er ſelbſt
ſeine Ausbildung bekommt, und alles floͤßet dem
Herzen durch die angenehmen Empfindungen, die
von jedem Gegenſtand erwekt werden, ein ſanftes
Gefuͤhl ein. Was in den paradieſiſchen Gegenden
des Erdbodens die Natur thut, das thun die ſchoͤ-
nen Kuͤnſte da, wo ſie ſich in ihrem unverdorbenen
Schmuk zeigen. (*) Jn dem Menſchen, deſſen Geiſt
und Herz ſo unaufhoͤrlich von allen Arten des Voll-
kommenen gereizt und geruͤhrt werden, entſteht
nothwendig eine Entwiklung und allmaͤhlige Ver-
feinerung aller Seelenkraͤfte. Die Dummheit und
Unempfindlichkeit des rohen natuͤrlichen Menſchen
verſchwindet nach und nach; und aus einem Thier,
das vielleicht eben ſo wild war, als irgend ein an-
deres, wird ein Menſch gebildet, deſſen Geiſt reich
an Annehmlichkeiten und deſſen Gemuͤthsart liebens-
wuͤrdig iſt.

So
(*) S.
Baukunſt.
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/47>, abgerufen am 26.04.2024.