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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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wenn sie auch griechischer, oder noch fremderer Ab-
kunft wären. Wem damit gedient wäre den Dich-
rer in seiner Sprache zu lesen, der könnte ihn da-
rum noch immer bekommen.

Klarheit.
(Schöne Künste.)

Wir nennen den Gegenstand unsrer Vorstellung
klar, wenn wir ihn, im Ganzen genommen, so be-
stimmt und so kenntlich fassen, daß es uns leicht
wird, ihn von jedem andern Gegenstand zu unter-
scheiden. Von der Deutlichkeit ist die Klarheit da-
rin unterschieden, daß diese den Gegenstand nur im
Ganzen kenntlich macht, da bey jener auch das be-
sondre und seine einzele Theile klar sind.

Die Klarheit eines Gegenstandes würkt auf mehr
als einerley Art so vortheilhaft auf die Vorstellungs-
kraft, daß sie bey der Theorie der schönen Künste
in mehrern Betrachtungen wichtig wird. Jeder
Gegenstand, der bestimmt soll gefaßt werden, muß
die gehörige Klarheit haben; und so ist sie ihm
auch nöthig, wenn man ihn mit Vergnügen sehen
soll. Dann der menschliche Geist hat einen unaus-
löschlichen Hang, die Sachen auf die er einmal
seine Aufmerksamkeit gerichtet hat, klar zu sehen.
Wenn man nicht klar (oder wie man es zu nennen
pflegt, deutlich genug) mit uns spricht; wenn
man uns etwas zeiget, das wir aus Mangel des
Lichts nicht klar genug sehen können; so werden wir
dadurch in merkliche Unruhe gesetzt. Also müßte
schon deswegen allein jeder Gegenstand des Ge-
schmaks, den uns die Künste vorstellen, hinlängliche
Klarheit haben.

Jedes Werk der schönen Künste, und jeder Haupt-
theil, der schon für sich eine bestimmte Würkung
thun soll, muß, wo nicht, wie von hellem Son-
nenschein, doch wie von vollem Tageslicht beleüchtet
werden. Hier hat der Künstler zweyerley Dinge
zu überlegen: er muß dem ganzen Werk, in so fern
es sich auf einmal fassen läßt, hinlängliche Klar-
heit geben, und denn jedem Theile desselben beson-
ders, den Grad der Klarheit, der ihm zukommt.
Ein Werk, das im Ganzen nicht Klarheit genug
hat, ist bey allen Schönheiten einzeler Theile, als
eine Sammlung von Trümmern anzusehen. Wel-
cher wahre Kenner wird ein Gemählde, das im
Ganzen nichts verständliches vorstellt, darum, daß
hier und da eine schöne Figur, oder eine schöne
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Gruppe könnte herausgeschnitten werden, für ein
schönes Gemähld ausgeben?

Aber wie muß man die Klarheit des Ganzen be-
urtheilen? und worauf hat der Künstler zu sehen,
um sie zu erreichen? Was ist in einem Werk der
schönen Künste Klarheit des Ganzen?

Am leichtesten ist diese Frage bey einem Ge-
mählde zu beantworten, und von dieser Gattung
kann die Antwort auch auf Werke andrer Gattun-
gen angewendet werden. Die horazische Maxime
ut pictura poesis, kann auf alle Künste ausgedähnt
werden. Also, wenn zeiget ein Gemählde Klarheit
im Ganzen?

Unstreitig alsdenn, wenn ein verständiger Beur-
theiler seinen Jnhalt, aus dem, was vor ihm liegt
bestimmt erkennt; wenn er nach hinlänglicher Be-
trachtung des Werks seinen Jnhalt erzählen, das
Hauptintresse, worauf alles ankommt, bemerken,
jeden Haupttheil nennen, und sagen kann, wie er
mit dem Ganzen zusammenhängt, und was er zum
Ganzen würkt. Nach diesen wenigen Begriffen ist
es leicht, jedes Werk in Ausehung der Klarheit
des Ganzen zu beurtheilen. Wenn wir ein Hel-
dengedicht lesen, oder ein Drama sehen, so dürfen
wir nach Vollendung desselben nur versuchen, ob
wir diese Fragen beantworten können. Was für
eine Handlung war dieses, wodurch veranlaset, und
was war der Ausgang? Wie kam es, daß die Sa-
chen diese Wendung nahmen? Was hat dieser, und
der von den handelnden Personen, zu der Sache
beygetragen? Woher entstuhnd diese, und diese Ver-
ändrung in der Lage der Sachen? Wenn wir uns
dergleichen Fragen beantworten können, und wenn
uns dünkt, wir sehen die ganze Handlung von An-
fange bis zum Ende, nach allen Hauptumständen
und Hauptpersonen, wie ein helles Gemählde vor
Augen; so fehlt es dem Gedichte nicht an Klarheit
im Ganzen.

Hören wir ein Concert, oder ein anderes Ton-
stük, so dürfen wir nur Achtung geben, ob wir em-
pfinden, daß Gesang, Harmonie und Bewegung
mit den Aeusserungen einer bekannten Leidenschaft,
oder Empfindung übereinkommen; ob sie sich durch
das ganze Stük allmählig verstärkt, oder ob sie
bey demselben Grade der Stärke verschiedene Wen-
dungen annihmt, wobey wir aber immer dieselbe
Leidenschaft, oder Empfindung sprechen hören.

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wenn ſie auch griechiſcher, oder noch fremderer Ab-
kunft waͤren. Wem damit gedient waͤre den Dich-
rer in ſeiner Sprache zu leſen, der koͤnnte ihn da-
rum noch immer bekommen.

Klarheit.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Wir nennen den Gegenſtand unſrer Vorſtellung
klar, wenn wir ihn, im Ganzen genommen, ſo be-
ſtimmt und ſo kenntlich faſſen, daß es uns leicht
wird, ihn von jedem andern Gegenſtand zu unter-
ſcheiden. Von der Deutlichkeit iſt die Klarheit da-
rin unterſchieden, daß dieſe den Gegenſtand nur im
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ſondre und ſeine einzele Theile klar ſind.

Die Klarheit eines Gegenſtandes wuͤrkt auf mehr
als einerley Art ſo vortheilhaft auf die Vorſtellungs-
kraft, daß ſie bey der Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte
in mehrern Betrachtungen wichtig wird. Jeder
Gegenſtand, der beſtimmt ſoll gefaßt werden, muß
die gehoͤrige Klarheit haben; und ſo iſt ſie ihm
auch noͤthig, wenn man ihn mit Vergnuͤgen ſehen
ſoll. Dann der menſchliche Geiſt hat einen unaus-
loͤſchlichen Hang, die Sachen auf die er einmal
ſeine Aufmerkſamkeit gerichtet hat, klar zu ſehen.
Wenn man nicht klar (oder wie man es zu nennen
pflegt, deutlich genug) mit uns ſpricht; wenn
man uns etwas zeiget, das wir aus Mangel des
Lichts nicht klar genug ſehen koͤnnen; ſo werden wir
dadurch in merkliche Unruhe geſetzt. Alſo muͤßte
ſchon deswegen allein jeder Gegenſtand des Ge-
ſchmaks, den uns die Kuͤnſte vorſtellen, hinlaͤngliche
Klarheit haben.

Jedes Werk der ſchoͤnen Kuͤnſte, und jeder Haupt-
theil, der ſchon fuͤr ſich eine beſtimmte Wuͤrkung
thun ſoll, muß, wo nicht, wie von hellem Son-
nenſchein, doch wie von vollem Tageslicht beleuͤchtet
werden. Hier hat der Kuͤnſtler zweyerley Dinge
zu uͤberlegen: er muß dem ganzen Werk, in ſo fern
es ſich auf einmal faſſen laͤßt, hinlaͤngliche Klar-
heit geben, und denn jedem Theile deſſelben beſon-
ders, den Grad der Klarheit, der ihm zukommt.
Ein Werk, das im Ganzen nicht Klarheit genug
hat, iſt bey allen Schoͤnheiten einzeler Theile, als
eine Sammlung von Truͤmmern anzuſehen. Wel-
cher wahre Kenner wird ein Gemaͤhlde, das im
Ganzen nichts verſtaͤndliches vorſtellt, darum, daß
hier und da eine ſchoͤne Figur, oder eine ſchoͤne
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Gruppe koͤnnte herausgeſchnitten werden, fuͤr ein
ſchoͤnes Gemaͤhld ausgeben?

Aber wie muß man die Klarheit des Ganzen be-
urtheilen? und worauf hat der Kuͤnſtler zu ſehen,
um ſie zu erreichen? Was iſt in einem Werk der
ſchoͤnen Kuͤnſte Klarheit des Ganzen?

Am leichteſten iſt dieſe Frage bey einem Ge-
maͤhlde zu beantworten, und von dieſer Gattung
kann die Antwort auch auf Werke andrer Gattun-
gen angewendet werden. Die horaziſche Maxime
ut pictura poeſis, kann auf alle Kuͤnſte ausgedaͤhnt
werden. Alſo, wenn zeiget ein Gemaͤhlde Klarheit
im Ganzen?

Unſtreitig alsdenn, wenn ein verſtaͤndiger Beur-
theiler ſeinen Jnhalt, aus dem, was vor ihm liegt
beſtimmt erkennt; wenn er nach hinlaͤnglicher Be-
trachtung des Werks ſeinen Jnhalt erzaͤhlen, das
Hauptintreſſe, worauf alles ankommt, bemerken,
jeden Haupttheil nennen, und ſagen kann, wie er
mit dem Ganzen zuſammenhaͤngt, und was er zum
Ganzen wuͤrkt. Nach dieſen wenigen Begriffen iſt
es leicht, jedes Werk in Auſehung der Klarheit
des Ganzen zu beurtheilen. Wenn wir ein Hel-
dengedicht leſen, oder ein Drama ſehen, ſo duͤrfen
wir nach Vollendung deſſelben nur verſuchen, ob
wir dieſe Fragen beantworten koͤnnen. Was fuͤr
eine Handlung war dieſes, wodurch veranlaſet, und
was war der Ausgang? Wie kam es, daß die Sa-
chen dieſe Wendung nahmen? Was hat dieſer, und
der von den handelnden Perſonen, zu der Sache
beygetragen? Woher entſtuhnd dieſe, und dieſe Ver-
aͤndrung in der Lage der Sachen? Wenn wir uns
dergleichen Fragen beantworten koͤnnen, und wenn
uns duͤnkt, wir ſehen die ganze Handlung von An-
fange bis zum Ende, nach allen Hauptumſtaͤnden
und Hauptperſonen, wie ein helles Gemaͤhlde vor
Augen; ſo fehlt es dem Gedichte nicht an Klarheit
im Ganzen.

Hoͤren wir ein Concert, oder ein anderes Ton-
ſtuͤk, ſo duͤrfen wir nur Achtung geben, ob wir em-
pfinden, daß Geſang, Harmonie und Bewegung
mit den Aeuſſerungen einer bekannten Leidenſchaft,
oder Empfindung uͤbereinkommen; ob ſie ſich durch
das ganze Stuͤk allmaͤhlig verſtaͤrkt, oder ob ſie
bey demſelben Grade der Staͤrke verſchiedene Wen-
dungen annihmt, wobey wir aber immer dieſelbe
Leidenſchaft, oder Empfindung ſprechen hoͤren.

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[589/0024] Kla Kla wenn ſie auch griechiſcher, oder noch fremderer Ab- kunft waͤren. Wem damit gedient waͤre den Dich- rer in ſeiner Sprache zu leſen, der koͤnnte ihn da- rum noch immer bekommen. Klarheit. (Schoͤne Kuͤnſte.) Wir nennen den Gegenſtand unſrer Vorſtellung klar, wenn wir ihn, im Ganzen genommen, ſo be- ſtimmt und ſo kenntlich faſſen, daß es uns leicht wird, ihn von jedem andern Gegenſtand zu unter- ſcheiden. Von der Deutlichkeit iſt die Klarheit da- rin unterſchieden, daß dieſe den Gegenſtand nur im Ganzen kenntlich macht, da bey jener auch das be- ſondre und ſeine einzele Theile klar ſind. Die Klarheit eines Gegenſtandes wuͤrkt auf mehr als einerley Art ſo vortheilhaft auf die Vorſtellungs- kraft, daß ſie bey der Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte in mehrern Betrachtungen wichtig wird. Jeder Gegenſtand, der beſtimmt ſoll gefaßt werden, muß die gehoͤrige Klarheit haben; und ſo iſt ſie ihm auch noͤthig, wenn man ihn mit Vergnuͤgen ſehen ſoll. Dann der menſchliche Geiſt hat einen unaus- loͤſchlichen Hang, die Sachen auf die er einmal ſeine Aufmerkſamkeit gerichtet hat, klar zu ſehen. Wenn man nicht klar (oder wie man es zu nennen pflegt, deutlich genug) mit uns ſpricht; wenn man uns etwas zeiget, das wir aus Mangel des Lichts nicht klar genug ſehen koͤnnen; ſo werden wir dadurch in merkliche Unruhe geſetzt. Alſo muͤßte ſchon deswegen allein jeder Gegenſtand des Ge- ſchmaks, den uns die Kuͤnſte vorſtellen, hinlaͤngliche Klarheit haben. Jedes Werk der ſchoͤnen Kuͤnſte, und jeder Haupt- theil, der ſchon fuͤr ſich eine beſtimmte Wuͤrkung thun ſoll, muß, wo nicht, wie von hellem Son- nenſchein, doch wie von vollem Tageslicht beleuͤchtet werden. Hier hat der Kuͤnſtler zweyerley Dinge zu uͤberlegen: er muß dem ganzen Werk, in ſo fern es ſich auf einmal faſſen laͤßt, hinlaͤngliche Klar- heit geben, und denn jedem Theile deſſelben beſon- ders, den Grad der Klarheit, der ihm zukommt. Ein Werk, das im Ganzen nicht Klarheit genug hat, iſt bey allen Schoͤnheiten einzeler Theile, als eine Sammlung von Truͤmmern anzuſehen. Wel- cher wahre Kenner wird ein Gemaͤhlde, das im Ganzen nichts verſtaͤndliches vorſtellt, darum, daß hier und da eine ſchoͤne Figur, oder eine ſchoͤne Gruppe koͤnnte herausgeſchnitten werden, fuͤr ein ſchoͤnes Gemaͤhld ausgeben? Aber wie muß man die Klarheit des Ganzen be- urtheilen? und worauf hat der Kuͤnſtler zu ſehen, um ſie zu erreichen? Was iſt in einem Werk der ſchoͤnen Kuͤnſte Klarheit des Ganzen? Am leichteſten iſt dieſe Frage bey einem Ge- maͤhlde zu beantworten, und von dieſer Gattung kann die Antwort auch auf Werke andrer Gattun- gen angewendet werden. Die horaziſche Maxime ut pictura poeſis, kann auf alle Kuͤnſte ausgedaͤhnt werden. Alſo, wenn zeiget ein Gemaͤhlde Klarheit im Ganzen? Unſtreitig alsdenn, wenn ein verſtaͤndiger Beur- theiler ſeinen Jnhalt, aus dem, was vor ihm liegt beſtimmt erkennt; wenn er nach hinlaͤnglicher Be- trachtung des Werks ſeinen Jnhalt erzaͤhlen, das Hauptintreſſe, worauf alles ankommt, bemerken, jeden Haupttheil nennen, und ſagen kann, wie er mit dem Ganzen zuſammenhaͤngt, und was er zum Ganzen wuͤrkt. Nach dieſen wenigen Begriffen iſt es leicht, jedes Werk in Auſehung der Klarheit des Ganzen zu beurtheilen. Wenn wir ein Hel- dengedicht leſen, oder ein Drama ſehen, ſo duͤrfen wir nach Vollendung deſſelben nur verſuchen, ob wir dieſe Fragen beantworten koͤnnen. Was fuͤr eine Handlung war dieſes, wodurch veranlaſet, und was war der Ausgang? Wie kam es, daß die Sa- chen dieſe Wendung nahmen? Was hat dieſer, und der von den handelnden Perſonen, zu der Sache beygetragen? Woher entſtuhnd dieſe, und dieſe Ver- aͤndrung in der Lage der Sachen? Wenn wir uns dergleichen Fragen beantworten koͤnnen, und wenn uns duͤnkt, wir ſehen die ganze Handlung von An- fange bis zum Ende, nach allen Hauptumſtaͤnden und Hauptperſonen, wie ein helles Gemaͤhlde vor Augen; ſo fehlt es dem Gedichte nicht an Klarheit im Ganzen. Hoͤren wir ein Concert, oder ein anderes Ton- ſtuͤk, ſo duͤrfen wir nur Achtung geben, ob wir em- pfinden, daß Geſang, Harmonie und Bewegung mit den Aeuſſerungen einer bekannten Leidenſchaft, oder Empfindung uͤbereinkommen; ob ſie ſich durch das ganze Stuͤk allmaͤhlig verſtaͤrkt, oder ob ſie bey demſelben Grade der Staͤrke verſchiedene Wen- dungen annihmt, wobey wir aber immer dieſelbe Leidenſchaft, oder Empfindung ſprechen hoͤren. Hat E e e e 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 589. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/24>, abgerufen am 26.04.2024.