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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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[Spaltenumbruch]

Leb
er dieses alles besizt, denn muß er erst sein Aug auf
die Natur wenden. Er braucht nicht immer die
Reißfeder in die Hand zu haben; aber sein Aug
muß unaufhörlich beobachten, erforschen, abmessen,
und jede Kleinigkeit gegen das Ganze halten. Zu
dieser Uebung des Auges findet er die Gelegenheit
den ganzen Tag hindurch. Noch schwerer scheinet
es, durch das Colorit das würkliche Leben zu errei-
chen. Auch dieses hat sein Jdeal, (*) das der
Mahler nach der würklichen Natur abändern muß.
Darum kommen die Portraitmahler dem Leben alle-
mal näher, als die Historienmahler. Aus dieser
Ursache findet man unendlich mehr Leben, auch in
Vandyks Historien, als in Rubens seinen. Aber
man würde vergeblich versuchen, die Zauberstriche
des Pensels zu beschreiben, wodurch die Haut ihre
Weichheit, das Fleisch seine duftende Wärme, das
Aug seine Feuchtigkeit, und selbst seine Gedanken
und Empfindungen bekommt. Vermuthlich wür-
den Titian und Vandyk selbst nur wenig von einer
Kunst die sie vorzüglich besessen, gestammelt haben.
Es kommt hier, außer der allgemeinen Behandlung,
einer glüklichen Anlage und einer guten Wahl der
Farben, auf unbeschreibliche Kleinigkeiten an. Die
kleinesten kaum merklichen Lichter, Bliker und Wie-
derscheine, thun fast das meiste zu dem Leben. Jn
den Werken der größten Coloristen, scheinen diese
noch leichter, als in der Natur selbst zu entdeken.
Die Natur ist die Originalsprache, das gemachte
Bild eine Uebersetzung. Man muß hier, wie in
würklichen Sprachen, die, in welche man übersetzt
vollkommener besizen, als die Grundsprache. Man-
cher Mahler entdeket in dem Colorit der Natur
kräftige Kleinigkeiten, empfindet ihre Würkung,
kann sie aber mit seinen Farben nicht erreichen. Da
ist es gut, wenn er in den Werken der größten Mei-
ster entdeken kann, wie es ihnen gelungen ist, das
darzustellen, was ihm bey Nachahmung der Natur
nicht möglich war. Es kommt hier einerseits auf
ein erstaunlich scharfes und empfindsames Aug,
und denn auf eine, durch tausend Versuche unter-
richtete und noch glükliche Hand an.

Bisweilen erhält man durch Umwege, was man
geradezu nicht erreichen vermag. Manche Stelle
des Gemähldes, die das wahre Leben noch nicht
[Spaltenumbruch]

Leb
hat, erhält es, durch die Bearbeitung einer andern
Stelle. Dergleichen Beobachtungen ist man ofte
dem Zufall schuldig. Also muß der Mahler bey
der Arbeit des Pensels seinen Geist unaufhörlich zur
Beobachtung der zufälligen Würkungen der Farben,
der Lichter und Schatten, des Hellen und Dunkeln
gegen einander, gespannet halten, damit ihm nichts
davon entgehe. Arbeitet er in einiger Zerstreuung der
Gedanken, so gelinget ihm bisweilen etwas, das er
hernach mit keinem Suchen wieder nachmachen kann.
Hätte er aber damals, als es ihm gelungen ist, auf
alles, was er that Achtung gegeben, so würde er
nun diesen Theil seiner Kunst besizen. Darum muß
der Mahler, so gut, als der Philosoph seine Stunden
haben, wo er sich in ein stilles Cabinet verschließt, um
die höchste Aufmerksamkeit auf die Bemerkungen zu
richten, die ihm die Uebung seiner Kunst entdeken läßt.
Aber auch außer dem Cabinet, und in der Gesellschaft
muß er überall mit einem forschenden Aug den Ton
und die Farben des Lebens beobachten.

Lebendiger Ausdruk.
(Redende Künste.)

Der Klang der Rede, in so fern er ohne den Sinn
der Worte etwas Leidenschaftliches empfinden läßt,
wie die meisten Ausrufungswörter; (Jnterjektionen)
daher man diesen Ausdruk eigentlicher den leiden-
schaftlichen Ausdruk
nenuen würde. Einige Kunst-
richter rechnen auch den mahlerischen Klang hie-
her, der die natürliche Beschaffenheit körperlicher
Gegenstände ausdrükt, wie der bekannte Vers des
Virgils:

Quadrupedante putrem sonitu quatit ungula campum.
Durch dessen Klang der Dichter das Galoppiren ei-
nes Pferdes habe schildern wollen.

Man könnte dieses den schildernden Ausdruk nen-
nen; weil der bloße Ton der Wörter den Gegenstand
den sie bedeuten, zu erkennen giebt. Wahrscheinli-
cher Weise sind die ersten Grundwörter aller Spra-
chen der Welt ursprünglich schildernde Töne gewe-
sen, wie im Deutschen die Wörter Tonner, Wind,
Säuseln, Rieseln, Fließen
u. s. f. denn woher soll-
ten sonst die Erfinder der Namen die Wörter herge-
nommen haben, als aus Nachahmung des Tones,
den die Sachen hören lassen? (+) Ehe die Menschen

eine
(*) S.
Colorit.
(+) [Spaltenumbruch] Hieraus würde folgen, daß alle Sprachen der Welt
gar viel gemeinschaftliche Grundwörter haben müssen.
[Spaltenumbruch] Davon bin ich auch überzeuget. Nur muß man bedenken,
daß nicht jedes Ohr die natürlichen Töne gleich bestimmt

[Spaltenumbruch]

Leb
er dieſes alles beſizt, denn muß er erſt ſein Aug auf
die Natur wenden. Er braucht nicht immer die
Reißfeder in die Hand zu haben; aber ſein Aug
muß unaufhoͤrlich beobachten, erforſchen, abmeſſen,
und jede Kleinigkeit gegen das Ganze halten. Zu
dieſer Uebung des Auges findet er die Gelegenheit
den ganzen Tag hindurch. Noch ſchwerer ſcheinet
es, durch das Colorit das wuͤrkliche Leben zu errei-
chen. Auch dieſes hat ſein Jdeal, (*) das der
Mahler nach der wuͤrklichen Natur abaͤndern muß.
Darum kommen die Portraitmahler dem Leben alle-
mal naͤher, als die Hiſtorienmahler. Aus dieſer
Urſache findet man unendlich mehr Leben, auch in
Vandyks Hiſtorien, als in Rubens ſeinen. Aber
man wuͤrde vergeblich verſuchen, die Zauberſtriche
des Penſels zu beſchreiben, wodurch die Haut ihre
Weichheit, das Fleiſch ſeine duftende Waͤrme, das
Aug ſeine Feuchtigkeit, und ſelbſt ſeine Gedanken
und Empfindungen bekommt. Vermuthlich wuͤr-
den Titian und Vandyk ſelbſt nur wenig von einer
Kunſt die ſie vorzuͤglich beſeſſen, geſtammelt haben.
Es kommt hier, außer der allgemeinen Behandlung,
einer gluͤklichen Anlage und einer guten Wahl der
Farben, auf unbeſchreibliche Kleinigkeiten an. Die
kleineſten kaum merklichen Lichter, Bliker und Wie-
derſcheine, thun faſt das meiſte zu dem Leben. Jn
den Werken der groͤßten Coloriſten, ſcheinen dieſe
noch leichter, als in der Natur ſelbſt zu entdeken.
Die Natur iſt die Originalſprache, das gemachte
Bild eine Ueberſetzung. Man muß hier, wie in
wuͤrklichen Sprachen, die, in welche man uͤberſetzt
vollkommener beſizen, als die Grundſprache. Man-
cher Mahler entdeket in dem Colorit der Natur
kraͤftige Kleinigkeiten, empfindet ihre Wuͤrkung,
kann ſie aber mit ſeinen Farben nicht erreichen. Da
iſt es gut, wenn er in den Werken der groͤßten Mei-
ſter entdeken kann, wie es ihnen gelungen iſt, das
darzuſtellen, was ihm bey Nachahmung der Natur
nicht moͤglich war. Es kommt hier einerſeits auf
ein erſtaunlich ſcharfes und empfindſames Aug,
und denn auf eine, durch tauſend Verſuche unter-
richtete und noch gluͤkliche Hand an.

Bisweilen erhaͤlt man durch Umwege, was man
geradezu nicht erreichen vermag. Manche Stelle
des Gemaͤhldes, die das wahre Leben noch nicht
[Spaltenumbruch]

Leb
hat, erhaͤlt es, durch die Bearbeitung einer andern
Stelle. Dergleichen Beobachtungen iſt man ofte
dem Zufall ſchuldig. Alſo muß der Mahler bey
der Arbeit des Penſels ſeinen Geiſt unaufhoͤrlich zur
Beobachtung der zufaͤlligen Wuͤrkungen der Farben,
der Lichter und Schatten, des Hellen und Dunkeln
gegen einander, geſpannet halten, damit ihm nichts
davon entgehe. Arbeitet er in einiger Zerſtreuung der
Gedanken, ſo gelinget ihm bisweilen etwas, das er
hernach mit keinem Suchen wieder nachmachen kann.
Haͤtte er aber damals, als es ihm gelungen iſt, auf
alles, was er that Achtung gegeben, ſo wuͤrde er
nun dieſen Theil ſeiner Kunſt beſizen. Darum muß
der Mahler, ſo gut, als der Philoſoph ſeine Stunden
haben, wo er ſich in ein ſtilles Cabinet verſchließt, um
die hoͤchſte Aufmerkſamkeit auf die Bemerkungen zu
richten, die ihm die Uebung ſeiner Kunſt entdeken laͤßt.
Aber auch außer dem Cabinet, und in der Geſellſchaft
muß er uͤberall mit einem forſchenden Aug den Ton
und die Farben des Lebens beobachten.

Lebendiger Ausdruk.
(Redende Kuͤnſte.)

Der Klang der Rede, in ſo fern er ohne den Sinn
der Worte etwas Leidenſchaftliches empfinden laͤßt,
wie die meiſten Ausrufungswoͤrter; (Jnterjektionen)
daher man dieſen Ausdruk eigentlicher den leiden-
ſchaftlichen Ausdruk
nenuen wuͤrde. Einige Kunſt-
richter rechnen auch den mahleriſchen Klang hie-
her, der die natuͤrliche Beſchaffenheit koͤrperlicher
Gegenſtaͤnde ausdruͤkt, wie der bekannte Vers des
Virgils:

Quadrupedante putrem ſonitu quatit ungula campum.
Durch deſſen Klang der Dichter das Galoppiren ei-
nes Pferdes habe ſchildern wollen.

Man koͤnnte dieſes den ſchildernden Ausdruk nen-
nen; weil der bloße Ton der Woͤrter den Gegenſtand
den ſie bedeuten, zu erkennen giebt. Wahrſcheinli-
cher Weiſe ſind die erſten Grundwoͤrter aller Spra-
chen der Welt urſpruͤnglich ſchildernde Toͤne gewe-
ſen, wie im Deutſchen die Woͤrter Tonner, Wind,
Saͤuſeln, Rieſeln, Fließen
u. ſ. f. denn woher ſoll-
ten ſonſt die Erfinder der Namen die Woͤrter herge-
nommen haben, als aus Nachahmung des Tones,
den die Sachen hoͤren laſſen? (†) Ehe die Menſchen

eine
(*) S.
Colorit.
(†) [Spaltenumbruch] Hieraus wuͤrde folgen, daß alle Sprachen der Welt
gar viel gemeinſchaftliche Grundwoͤrter haben muͤſſen.
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[680[662]/0097] Leb Leb er dieſes alles beſizt, denn muß er erſt ſein Aug auf die Natur wenden. Er braucht nicht immer die Reißfeder in die Hand zu haben; aber ſein Aug muß unaufhoͤrlich beobachten, erforſchen, abmeſſen, und jede Kleinigkeit gegen das Ganze halten. Zu dieſer Uebung des Auges findet er die Gelegenheit den ganzen Tag hindurch. Noch ſchwerer ſcheinet es, durch das Colorit das wuͤrkliche Leben zu errei- chen. Auch dieſes hat ſein Jdeal, (*) das der Mahler nach der wuͤrklichen Natur abaͤndern muß. Darum kommen die Portraitmahler dem Leben alle- mal naͤher, als die Hiſtorienmahler. Aus dieſer Urſache findet man unendlich mehr Leben, auch in Vandyks Hiſtorien, als in Rubens ſeinen. Aber man wuͤrde vergeblich verſuchen, die Zauberſtriche des Penſels zu beſchreiben, wodurch die Haut ihre Weichheit, das Fleiſch ſeine duftende Waͤrme, das Aug ſeine Feuchtigkeit, und ſelbſt ſeine Gedanken und Empfindungen bekommt. Vermuthlich wuͤr- den Titian und Vandyk ſelbſt nur wenig von einer Kunſt die ſie vorzuͤglich beſeſſen, geſtammelt haben. Es kommt hier, außer der allgemeinen Behandlung, einer gluͤklichen Anlage und einer guten Wahl der Farben, auf unbeſchreibliche Kleinigkeiten an. Die kleineſten kaum merklichen Lichter, Bliker und Wie- derſcheine, thun faſt das meiſte zu dem Leben. Jn den Werken der groͤßten Coloriſten, ſcheinen dieſe noch leichter, als in der Natur ſelbſt zu entdeken. Die Natur iſt die Originalſprache, das gemachte Bild eine Ueberſetzung. Man muß hier, wie in wuͤrklichen Sprachen, die, in welche man uͤberſetzt vollkommener beſizen, als die Grundſprache. Man- cher Mahler entdeket in dem Colorit der Natur kraͤftige Kleinigkeiten, empfindet ihre Wuͤrkung, kann ſie aber mit ſeinen Farben nicht erreichen. Da iſt es gut, wenn er in den Werken der groͤßten Mei- ſter entdeken kann, wie es ihnen gelungen iſt, das darzuſtellen, was ihm bey Nachahmung der Natur nicht moͤglich war. Es kommt hier einerſeits auf ein erſtaunlich ſcharfes und empfindſames Aug, und denn auf eine, durch tauſend Verſuche unter- richtete und noch gluͤkliche Hand an. Bisweilen erhaͤlt man durch Umwege, was man geradezu nicht erreichen vermag. Manche Stelle des Gemaͤhldes, die das wahre Leben noch nicht hat, erhaͤlt es, durch die Bearbeitung einer andern Stelle. Dergleichen Beobachtungen iſt man ofte dem Zufall ſchuldig. Alſo muß der Mahler bey der Arbeit des Penſels ſeinen Geiſt unaufhoͤrlich zur Beobachtung der zufaͤlligen Wuͤrkungen der Farben, der Lichter und Schatten, des Hellen und Dunkeln gegen einander, geſpannet halten, damit ihm nichts davon entgehe. Arbeitet er in einiger Zerſtreuung der Gedanken, ſo gelinget ihm bisweilen etwas, das er hernach mit keinem Suchen wieder nachmachen kann. Haͤtte er aber damals, als es ihm gelungen iſt, auf alles, was er that Achtung gegeben, ſo wuͤrde er nun dieſen Theil ſeiner Kunſt beſizen. Darum muß der Mahler, ſo gut, als der Philoſoph ſeine Stunden haben, wo er ſich in ein ſtilles Cabinet verſchließt, um die hoͤchſte Aufmerkſamkeit auf die Bemerkungen zu richten, die ihm die Uebung ſeiner Kunſt entdeken laͤßt. Aber auch außer dem Cabinet, und in der Geſellſchaft muß er uͤberall mit einem forſchenden Aug den Ton und die Farben des Lebens beobachten. Lebendiger Ausdruk. (Redende Kuͤnſte.) Der Klang der Rede, in ſo fern er ohne den Sinn der Worte etwas Leidenſchaftliches empfinden laͤßt, wie die meiſten Ausrufungswoͤrter; (Jnterjektionen) daher man dieſen Ausdruk eigentlicher den leiden- ſchaftlichen Ausdruk nenuen wuͤrde. Einige Kunſt- richter rechnen auch den mahleriſchen Klang hie- her, der die natuͤrliche Beſchaffenheit koͤrperlicher Gegenſtaͤnde ausdruͤkt, wie der bekannte Vers des Virgils: Quadrupedante putrem ſonitu quatit ungula campum. Durch deſſen Klang der Dichter das Galoppiren ei- nes Pferdes habe ſchildern wollen. Man koͤnnte dieſes den ſchildernden Ausdruk nen- nen; weil der bloße Ton der Woͤrter den Gegenſtand den ſie bedeuten, zu erkennen giebt. Wahrſcheinli- cher Weiſe ſind die erſten Grundwoͤrter aller Spra- chen der Welt urſpruͤnglich ſchildernde Toͤne gewe- ſen, wie im Deutſchen die Woͤrter Tonner, Wind, Saͤuſeln, Rieſeln, Fließen u. ſ. f. denn woher ſoll- ten ſonſt die Erfinder der Namen die Woͤrter herge- nommen haben, als aus Nachahmung des Tones, den die Sachen hoͤren laſſen? (†) Ehe die Menſchen eine (*) S. Colorit. (†) Hieraus wuͤrde folgen, daß alle Sprachen der Welt gar viel gemeinſchaftliche Grundwoͤrter haben muͤſſen. Davon bin ich auch uͤberzeuget. Nur muß man bedenken, daß nicht jedes Ohr die natuͤrlichen Toͤne gleich beſtimmt

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 680[662]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/97>, abgerufen am 30.12.2024.