dieser Seite betrachtet kann das Sinngedicht, so klein es ist, wichtig werden. Welches wolgeartete Frauenzimmer wird ohne Rührung diese vier Verse von Besser lesen?
Dies ist das sittsame Gesicht; Dies ist die Doris die Geliebte, Die ihren Caniz eher nicht, Als nur durch ihren Tod betrübte.
Die Wichtigkeit des lobenden und spottenden Sinn- gedichts ist zu offenbar, als daß wir uns dabey auf- halten sollten. Und wie leichtsinnig müßte der nicht seyn, der das vorher angeführte Sinngedicht auf den Epiktet, ohne heilsamen Eindruk davon zu füh- len, lesen könnte: Dies ist Epiktet, ein Sclave, lahm und höchst arm, aber den Göttern werth.
Es lassen sich aus allem angeführten auch ohne mühesames Nachdenken, die vornehmsten Eigen- schaften des Sinngedichtes abnehmen. Man findet sie in den angeführten Anmerkungen unsers Lessings gründlich auseinandergesezt. Wir begnügen uns also die Hauptsachen ganz kurz anzuzeigen.
Da dieses Gedicht das kleineste von allen ist, so leidet es auch nicht den geringsten Fleken. Gedan- ken und Ausdrüke müssen vollkommen bestimmt, voll- kommen richtig und passend seyn. Der Gegenstand muß mit wenigen, aber meisterhaften Zügen so ge- zeichnet seyn, daß wir ihn schnell, nach seiner Sel- tenheit, oder Wichtigkeit, und in dem ihm zukommen- den Ton der Farbe, ins Auge fassen. Und wie bey würklichen Denkmalen die Einfalt eine Haupttugend ist, so muß auch hier nichts mit Zierrathen ver- brämt, vielweniger überladen seyn. Man kann das, was wir über die Beschaffenheit des Denk- mals gesagt haben (*) leicht hierauf anwenden.
Das Prädicat, oder was die Aufschrift vorstellt, muß uns die Sach in einem völlig interessanten Licht zeigen, es sey als besonders gut oder bös, oder blos selten, oder poßirlich. Wir müssen nothwendig da- durch überrascht, oder doch stark angegriffen werden. Dazu wird Kürze, Nachdruk, oder naive Einfalt, oder Wiz, oder seltsamer Contrast, aber allemal der vollkommenste Ausdruk erfodert.
Und hieraus läßt sich abnehmen, daß dieses kleine Gedicht einen Meister in Gedanken und Ausdruk erfodere, und nichts weniger, als das Werk eines gemeinen Reimers sey.
[Spaltenumbruch]
Sin
Aus dem Alterthum haben wir viele sehr schöne Sinngedichte in den beyden griechischen so genannten Anthologien. Aber der Hauptepigrammatist, der diese Dichtart besonders und einzig getrieben hat, ist Martialis. Unter uns haben sich Logau und Wer- nike vorzüglich in diesem Fache gezeiget, und der leztere besonders könnte vorzüglich genennt werden, wenn die Frage vorkäme, wie weit es Deutschen in dieser Art gebracht haben; obgleich zu seiner Zeit der deutschen Sprache der leichte und geschmeidige Ausdruk, den sie zu unsern Zeiten bekommen hat, noch fehlte. Hagedorn hat in dieser, wie in meh- rern Arten auch in Ansehung des vollkommenen Ausdruks hierin den Deutschen die ersten Muster ge- geben. Hier und da laufen einige Sinngedichte von Kästner herum, aus denen man abnehmen kann, daß dieser durch ernsthaftere Arbeiten berühmte Mann alle seine Vorgänger in dieser Art würde über- troffen haben, wenn er sich vorgenommen hätte, das Sinngedicht zu seinem Fache zu wählen.
Sinnlich. (Schöne Künste.)
Eigentlich wird das sinnlich genennt, was wir durch die äußern Sinnen des Körpers empfinden; man hat aber die Bedeutung des Worts auch auf das ausgedähnet, was wir blos innerlich, ohne Zuthun der körperlichen Sinnen empfinden, wie Be- gierde, Furcht, Liebe u. d. gl. Dieses Sinnliche das man auch empfindbar nennen könnte, wird von dem Erkennlichen, wenn ich dieses Wort brauchen därf, unterschieden. Man hat nämlich bemerkt, daß diese zwey Arten, sich etwas bewußt zu seyn, da man etwas erkennt, oder da man etwas empfindet, sehr von einander verschieden seyen, und das, was man empfindet, sinnlich genannt. Weil es zur Theorie der schönen Künste nothwendig ist, daß man den Unterschied zwischen Erkennen und Empfinden, genau bemerke, indem diese Künste sich von den Wissenschaften darin unterscheiden, daß jene für das Empfinden, diese für das Erkennen, arbeiten, so müssen wir die Begriffe hierüber genau entwikeln.
Wir sagen, daß wir etwas erkennen, fassen, oder begreifen, wenn wir seine Beschaffenheit wahrneh- men, und wir erkennen die Sache deutlich, deren Beschaffenheit wir andern beschreiben, oder erklären können. Beym Erkennen schwebt also unserm Geist etwas vor, oder wir sind uns einer Sache bewußt,
die
(*) S. Denkmal.
Zweyter Theil. T t t t t t
[Spaltenumbruch]
Sin
dieſer Seite betrachtet kann das Sinngedicht, ſo klein es iſt, wichtig werden. Welches wolgeartete Frauenzimmer wird ohne Ruͤhrung dieſe vier Verſe von Beſſer leſen?
Dies iſt das ſittſame Geſicht; Dies iſt die Doris die Geliebte, Die ihren Caniz eher nicht, Als nur durch ihren Tod betruͤbte.
Die Wichtigkeit des lobenden und ſpottenden Sinn- gedichts iſt zu offenbar, als daß wir uns dabey auf- halten ſollten. Und wie leichtſinnig muͤßte der nicht ſeyn, der das vorher angefuͤhrte Sinngedicht auf den Epiktet, ohne heilſamen Eindruk davon zu fuͤh- len, leſen koͤnnte: Dies iſt Epiktet, ein Sclave, lahm und hoͤchſt arm, aber den Goͤttern werth.
Es laſſen ſich aus allem angefuͤhrten auch ohne muͤheſames Nachdenken, die vornehmſten Eigen- ſchaften des Sinngedichtes abnehmen. Man findet ſie in den angefuͤhrten Anmerkungen unſers Leſſings gruͤndlich auseinandergeſezt. Wir begnuͤgen uns alſo die Hauptſachen ganz kurz anzuzeigen.
Da dieſes Gedicht das kleineſte von allen iſt, ſo leidet es auch nicht den geringſten Fleken. Gedan- ken und Ausdruͤke muͤſſen vollkommen beſtimmt, voll- kommen richtig und paſſend ſeyn. Der Gegenſtand muß mit wenigen, aber meiſterhaften Zuͤgen ſo ge- zeichnet ſeyn, daß wir ihn ſchnell, nach ſeiner Sel- tenheit, oder Wichtigkeit, und in dem ihm zukommen- den Ton der Farbe, ins Auge faſſen. Und wie bey wuͤrklichen Denkmalen die Einfalt eine Haupttugend iſt, ſo muß auch hier nichts mit Zierrathen ver- braͤmt, vielweniger uͤberladen ſeyn. Man kann das, was wir uͤber die Beſchaffenheit des Denk- mals geſagt haben (*) leicht hierauf anwenden.
Das Praͤdicat, oder was die Aufſchrift vorſtellt, muß uns die Sach in einem voͤllig intereſſanten Licht zeigen, es ſey als beſonders gut oder boͤs, oder blos ſelten, oder poßirlich. Wir muͤſſen nothwendig da- durch uͤberraſcht, oder doch ſtark angegriffen werden. Dazu wird Kuͤrze, Nachdruk, oder naive Einfalt, oder Wiz, oder ſeltſamer Contraſt, aber allemal der vollkommenſte Ausdruk erfodert.
Und hieraus laͤßt ſich abnehmen, daß dieſes kleine Gedicht einen Meiſter in Gedanken und Ausdruk erfodere, und nichts weniger, als das Werk eines gemeinen Reimers ſey.
[Spaltenumbruch]
Sin
Aus dem Alterthum haben wir viele ſehr ſchoͤne Sinngedichte in den beyden griechiſchen ſo genannten Anthologien. Aber der Hauptepigrammatiſt, der dieſe Dichtart beſonders und einzig getrieben hat, iſt Martialis. Unter uns haben ſich Logau und Wer- nike vorzuͤglich in dieſem Fache gezeiget, und der leztere beſonders koͤnnte vorzuͤglich genennt werden, wenn die Frage vorkaͤme, wie weit es Deutſchen in dieſer Art gebracht haben; obgleich zu ſeiner Zeit der deutſchen Sprache der leichte und geſchmeidige Ausdruk, den ſie zu unſern Zeiten bekommen hat, noch fehlte. Hagedorn hat in dieſer, wie in meh- rern Arten auch in Anſehung des vollkommenen Ausdruks hierin den Deutſchen die erſten Muſter ge- geben. Hier und da laufen einige Sinngedichte von Kaͤſtner herum, aus denen man abnehmen kann, daß dieſer durch ernſthaftere Arbeiten beruͤhmte Mann alle ſeine Vorgaͤnger in dieſer Art wuͤrde uͤber- troffen haben, wenn er ſich vorgenommen haͤtte, das Sinngedicht zu ſeinem Fache zu waͤhlen.
Sinnlich. (Schoͤne Kuͤnſte.)
Eigentlich wird das ſinnlich genennt, was wir durch die aͤußern Sinnen des Koͤrpers empfinden; man hat aber die Bedeutung des Worts auch auf das ausgedaͤhnet, was wir blos innerlich, ohne Zuthun der koͤrperlichen Sinnen empfinden, wie Be- gierde, Furcht, Liebe u. d. gl. Dieſes Sinnliche das man auch empfindbar nennen koͤnnte, wird von dem Erkennlichen, wenn ich dieſes Wort brauchen daͤrf, unterſchieden. Man hat naͤmlich bemerkt, daß dieſe zwey Arten, ſich etwas bewußt zu ſeyn, da man etwas erkennt, oder da man etwas empfindet, ſehr von einander verſchieden ſeyen, und das, was man empfindet, ſinnlich genannt. Weil es zur Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte nothwendig iſt, daß man den Unterſchied zwiſchen Erkennen und Empfinden, genau bemerke, indem dieſe Kuͤnſte ſich von den Wiſſenſchaften darin unterſcheiden, daß jene fuͤr das Empfinden, dieſe fuͤr das Erkennen, arbeiten, ſo muͤſſen wir die Begriffe hieruͤber genau entwikeln.
Wir ſagen, daß wir etwas erkennen, faſſen, oder begreifen, wenn wir ſeine Beſchaffenheit wahrneh- men, und wir erkennen die Sache deutlich, deren Beſchaffenheit wir andern beſchreiben, oder erklaͤren koͤnnen. Beym Erkennen ſchwebt alſo unſerm Geiſt etwas vor, oder wir ſind uns einer Sache bewußt,
die
(*) S. Denkmal.
Zweyter Theil. T t t t t t
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0512"n="1083[1065]"/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Sin</hi></fw><lb/>
dieſer Seite betrachtet kann das Sinngedicht, ſo<lb/>
klein es iſt, wichtig werden. Welches wolgeartete<lb/>
Frauenzimmer wird ohne Ruͤhrung dieſe vier Verſe<lb/>
von <hirendition="#fr">Beſſer</hi> leſen?</p><lb/><cit><quote><hirendition="#et">Dies iſt das ſittſame Geſicht;<lb/>
Dies iſt die Doris die Geliebte,<lb/>
Die ihren Caniz eher nicht,<lb/>
Als nur durch ihren Tod betruͤbte.</hi></quote></cit><lb/><p>Die Wichtigkeit des lobenden und ſpottenden Sinn-<lb/>
gedichts iſt zu offenbar, als daß wir uns dabey auf-<lb/>
halten ſollten. Und wie leichtſinnig muͤßte der nicht<lb/>ſeyn, der das vorher angefuͤhrte Sinngedicht auf<lb/>
den Epiktet, ohne heilſamen Eindruk davon zu fuͤh-<lb/>
len, leſen koͤnnte: <hirendition="#fr">Dies iſt Epiktet, ein Sclave,<lb/>
lahm und hoͤchſt arm, aber den Goͤttern werth.</hi></p><lb/><p>Es laſſen ſich aus allem angefuͤhrten auch ohne<lb/>
muͤheſames Nachdenken, die vornehmſten Eigen-<lb/>ſchaften des Sinngedichtes abnehmen. Man findet<lb/>ſie in den angefuͤhrten Anmerkungen unſers Leſſings<lb/>
gruͤndlich auseinandergeſezt. Wir begnuͤgen uns alſo<lb/>
die Hauptſachen ganz kurz anzuzeigen.</p><lb/><p>Da dieſes Gedicht das kleineſte von allen iſt, ſo<lb/>
leidet es auch nicht den geringſten Fleken. Gedan-<lb/>
ken und Ausdruͤke muͤſſen vollkommen beſtimmt, voll-<lb/>
kommen richtig und paſſend ſeyn. Der Gegenſtand<lb/>
muß mit wenigen, aber meiſterhaften Zuͤgen ſo ge-<lb/>
zeichnet ſeyn, daß wir ihn ſchnell, nach ſeiner Sel-<lb/>
tenheit, oder Wichtigkeit, und in dem ihm zukommen-<lb/>
den Ton der Farbe, ins Auge faſſen. Und wie bey<lb/>
wuͤrklichen Denkmalen die Einfalt eine Haupttugend<lb/>
iſt, ſo muß auch hier nichts mit Zierrathen ver-<lb/>
braͤmt, vielweniger uͤberladen ſeyn. Man kann<lb/>
das, was wir uͤber die Beſchaffenheit des Denk-<lb/>
mals geſagt haben <noteplace="foot"n="(*)">S.<lb/>
Denkmal.</note> leicht hierauf anwenden.</p><lb/><p>Das Praͤdicat, oder was die Aufſchrift vorſtellt,<lb/>
muß uns die Sach in einem voͤllig intereſſanten Licht<lb/>
zeigen, es ſey als beſonders gut oder boͤs, oder blos<lb/>ſelten, oder poßirlich. Wir muͤſſen nothwendig da-<lb/>
durch uͤberraſcht, oder doch ſtark angegriffen werden.<lb/>
Dazu wird Kuͤrze, Nachdruk, oder naive Einfalt,<lb/>
oder Wiz, oder ſeltſamer Contraſt, aber allemal der<lb/>
vollkommenſte Ausdruk erfodert.</p><lb/><p>Und hieraus laͤßt ſich abnehmen, daß dieſes kleine<lb/>
Gedicht einen Meiſter in Gedanken und Ausdruk<lb/>
erfodere, und nichts weniger, als das Werk eines<lb/>
gemeinen Reimers ſey.</p><lb/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Sin</hi></fw><lb/><p>Aus dem Alterthum haben wir viele ſehr ſchoͤne<lb/>
Sinngedichte in den beyden griechiſchen ſo genannten<lb/><hirendition="#fr">Anthologien.</hi> Aber der Hauptepigrammatiſt, der<lb/>
dieſe Dichtart beſonders und einzig getrieben hat, iſt<lb/><hirendition="#fr">Martialis.</hi> Unter uns haben ſich <hirendition="#fr">Logau</hi> und <hirendition="#fr">Wer-<lb/>
nike</hi> vorzuͤglich in dieſem Fache gezeiget, und der<lb/>
leztere beſonders koͤnnte vorzuͤglich genennt werden,<lb/>
wenn die Frage vorkaͤme, wie weit es Deutſchen in<lb/>
dieſer Art gebracht haben; obgleich zu ſeiner Zeit<lb/>
der deutſchen Sprache der leichte und geſchmeidige<lb/>
Ausdruk, den ſie zu unſern Zeiten bekommen hat,<lb/>
noch fehlte. <hirendition="#fr">Hagedorn</hi> hat in dieſer, wie in meh-<lb/>
rern Arten auch in Anſehung des vollkommenen<lb/>
Ausdruks hierin den Deutſchen die erſten Muſter ge-<lb/>
geben. Hier und da laufen einige Sinngedichte von<lb/><hirendition="#fr">Kaͤſtner</hi> herum, aus denen man abnehmen kann,<lb/>
daß dieſer durch ernſthaftere Arbeiten beruͤhmte<lb/>
Mann alle ſeine Vorgaͤnger in dieſer Art wuͤrde uͤber-<lb/>
troffen haben, wenn er ſich vorgenommen haͤtte, das<lb/>
Sinngedicht zu ſeinem Fache zu waͤhlen.</p></div><lb/><divn="2"><head><hirendition="#g">Sinnlich.</hi><lb/>
(Schoͤne Kuͤnſte.)</head><lb/><p><hirendition="#in">E</hi>igentlich wird das ſinnlich genennt, was wir<lb/>
durch die aͤußern Sinnen des Koͤrpers empfinden;<lb/>
man hat aber die Bedeutung des Worts auch auf<lb/>
das ausgedaͤhnet, was wir blos innerlich, ohne<lb/>
Zuthun der koͤrperlichen Sinnen empfinden, wie Be-<lb/>
gierde, Furcht, Liebe u. d. gl. Dieſes <hirendition="#fr">Sinnliche</hi><lb/>
das man auch empfindbar nennen koͤnnte, wird von<lb/>
dem <hirendition="#fr">Erkennlichen,</hi> wenn ich dieſes Wort brauchen<lb/>
daͤrf, unterſchieden. Man hat naͤmlich bemerkt, daß<lb/>
dieſe zwey Arten, ſich etwas bewußt zu ſeyn, da<lb/>
man etwas <hirendition="#fr">erkennt,</hi> oder da man etwas empfindet,<lb/>ſehr von einander verſchieden ſeyen, und das, was<lb/>
man empfindet, ſinnlich genannt. Weil es zur<lb/>
Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte nothwendig iſt, daß man<lb/>
den Unterſchied zwiſchen Erkennen und Empfinden,<lb/>
genau bemerke, indem dieſe Kuͤnſte ſich von den<lb/>
Wiſſenſchaften darin unterſcheiden, daß jene fuͤr das<lb/>
Empfinden, dieſe fuͤr das Erkennen, arbeiten, ſo<lb/>
muͤſſen wir die Begriffe hieruͤber genau entwikeln.</p><lb/><p>Wir ſagen, daß wir etwas erkennen, faſſen, oder<lb/>
begreifen, wenn wir ſeine Beſchaffenheit wahrneh-<lb/>
men, und wir erkennen die Sache deutlich, deren<lb/>
Beſchaffenheit wir andern beſchreiben, oder erklaͤren<lb/>
koͤnnen. Beym Erkennen ſchwebt alſo unſerm Geiſt<lb/>
etwas vor, oder wir ſind uns einer Sache bewußt,<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#fr">Zweyter Theil.</hi> T t t t t t</fw><fwplace="bottom"type="catch">die</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[1083[1065]/0512]
Sin
Sin
dieſer Seite betrachtet kann das Sinngedicht, ſo
klein es iſt, wichtig werden. Welches wolgeartete
Frauenzimmer wird ohne Ruͤhrung dieſe vier Verſe
von Beſſer leſen?
Dies iſt das ſittſame Geſicht;
Dies iſt die Doris die Geliebte,
Die ihren Caniz eher nicht,
Als nur durch ihren Tod betruͤbte.
Die Wichtigkeit des lobenden und ſpottenden Sinn-
gedichts iſt zu offenbar, als daß wir uns dabey auf-
halten ſollten. Und wie leichtſinnig muͤßte der nicht
ſeyn, der das vorher angefuͤhrte Sinngedicht auf
den Epiktet, ohne heilſamen Eindruk davon zu fuͤh-
len, leſen koͤnnte: Dies iſt Epiktet, ein Sclave,
lahm und hoͤchſt arm, aber den Goͤttern werth.
Es laſſen ſich aus allem angefuͤhrten auch ohne
muͤheſames Nachdenken, die vornehmſten Eigen-
ſchaften des Sinngedichtes abnehmen. Man findet
ſie in den angefuͤhrten Anmerkungen unſers Leſſings
gruͤndlich auseinandergeſezt. Wir begnuͤgen uns alſo
die Hauptſachen ganz kurz anzuzeigen.
Da dieſes Gedicht das kleineſte von allen iſt, ſo
leidet es auch nicht den geringſten Fleken. Gedan-
ken und Ausdruͤke muͤſſen vollkommen beſtimmt, voll-
kommen richtig und paſſend ſeyn. Der Gegenſtand
muß mit wenigen, aber meiſterhaften Zuͤgen ſo ge-
zeichnet ſeyn, daß wir ihn ſchnell, nach ſeiner Sel-
tenheit, oder Wichtigkeit, und in dem ihm zukommen-
den Ton der Farbe, ins Auge faſſen. Und wie bey
wuͤrklichen Denkmalen die Einfalt eine Haupttugend
iſt, ſo muß auch hier nichts mit Zierrathen ver-
braͤmt, vielweniger uͤberladen ſeyn. Man kann
das, was wir uͤber die Beſchaffenheit des Denk-
mals geſagt haben (*) leicht hierauf anwenden.
Das Praͤdicat, oder was die Aufſchrift vorſtellt,
muß uns die Sach in einem voͤllig intereſſanten Licht
zeigen, es ſey als beſonders gut oder boͤs, oder blos
ſelten, oder poßirlich. Wir muͤſſen nothwendig da-
durch uͤberraſcht, oder doch ſtark angegriffen werden.
Dazu wird Kuͤrze, Nachdruk, oder naive Einfalt,
oder Wiz, oder ſeltſamer Contraſt, aber allemal der
vollkommenſte Ausdruk erfodert.
Und hieraus laͤßt ſich abnehmen, daß dieſes kleine
Gedicht einen Meiſter in Gedanken und Ausdruk
erfodere, und nichts weniger, als das Werk eines
gemeinen Reimers ſey.
Aus dem Alterthum haben wir viele ſehr ſchoͤne
Sinngedichte in den beyden griechiſchen ſo genannten
Anthologien. Aber der Hauptepigrammatiſt, der
dieſe Dichtart beſonders und einzig getrieben hat, iſt
Martialis. Unter uns haben ſich Logau und Wer-
nike vorzuͤglich in dieſem Fache gezeiget, und der
leztere beſonders koͤnnte vorzuͤglich genennt werden,
wenn die Frage vorkaͤme, wie weit es Deutſchen in
dieſer Art gebracht haben; obgleich zu ſeiner Zeit
der deutſchen Sprache der leichte und geſchmeidige
Ausdruk, den ſie zu unſern Zeiten bekommen hat,
noch fehlte. Hagedorn hat in dieſer, wie in meh-
rern Arten auch in Anſehung des vollkommenen
Ausdruks hierin den Deutſchen die erſten Muſter ge-
geben. Hier und da laufen einige Sinngedichte von
Kaͤſtner herum, aus denen man abnehmen kann,
daß dieſer durch ernſthaftere Arbeiten beruͤhmte
Mann alle ſeine Vorgaͤnger in dieſer Art wuͤrde uͤber-
troffen haben, wenn er ſich vorgenommen haͤtte, das
Sinngedicht zu ſeinem Fache zu waͤhlen.
Sinnlich.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Eigentlich wird das ſinnlich genennt, was wir
durch die aͤußern Sinnen des Koͤrpers empfinden;
man hat aber die Bedeutung des Worts auch auf
das ausgedaͤhnet, was wir blos innerlich, ohne
Zuthun der koͤrperlichen Sinnen empfinden, wie Be-
gierde, Furcht, Liebe u. d. gl. Dieſes Sinnliche
das man auch empfindbar nennen koͤnnte, wird von
dem Erkennlichen, wenn ich dieſes Wort brauchen
daͤrf, unterſchieden. Man hat naͤmlich bemerkt, daß
dieſe zwey Arten, ſich etwas bewußt zu ſeyn, da
man etwas erkennt, oder da man etwas empfindet,
ſehr von einander verſchieden ſeyen, und das, was
man empfindet, ſinnlich genannt. Weil es zur
Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte nothwendig iſt, daß man
den Unterſchied zwiſchen Erkennen und Empfinden,
genau bemerke, indem dieſe Kuͤnſte ſich von den
Wiſſenſchaften darin unterſcheiden, daß jene fuͤr das
Empfinden, dieſe fuͤr das Erkennen, arbeiten, ſo
muͤſſen wir die Begriffe hieruͤber genau entwikeln.
Wir ſagen, daß wir etwas erkennen, faſſen, oder
begreifen, wenn wir ſeine Beſchaffenheit wahrneh-
men, und wir erkennen die Sache deutlich, deren
Beſchaffenheit wir andern beſchreiben, oder erklaͤren
koͤnnen. Beym Erkennen ſchwebt alſo unſerm Geiſt
etwas vor, oder wir ſind uns einer Sache bewußt,
die
(*) S.
Denkmal.
Zweyter Theil. T t t t t t
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1083[1065]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/512>, abgerufen am 30.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.