Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.[Spaltenumbruch] Ord gen worden, anzeigen. Die meisten Arien unterschei-den sich nicht genug von Opernarien; fast eben die Weichlichkeit und der übertriebene, beynahe wollüstige Puz der Melodien, und an einigen Orten so gar Spieh- lereyen, die die Empfindung tödten; Passagen, die sich zu jeder Leidenschaft gleich gut schiken; weil sie gar nichts sagen. Z. B. in der Arie: So stehet ein Berg Gottes etc. eine Passage auf das Wort stehet, und ein langer Lauf auf das Wort strahlen. Jn dem so feyerlichen Solo: Weinet nicht, es hat überwunden der Löwe vom Stamm Juda, sind würkliche, bis zum Ekel wiederholte Tändeleyen über die Worte überwunden, der Löwe und dem Stamm Juda. Jch verehre den Mann, der mein Freund war, in seiner Asche, so sehr, als jemand; aber über solche schweere Versehen, bey so höchst feyerli- cher Gelegenheit, kann ich, zur Warnung andrer nicht schweigen. Wenn das warme Jnteresse für das Wahre und Gute mir diesen Tadel zweyer ge- gen mich freundschaftlich gesinnter Männer abge- drungen; so ist es auch nicht Freundschaft, sondern würkliche Empfindung der Sache, wenn ich beyden über die Arie: Singt dem göttlichen Propheten, meinen lauten Beyfall gebe: viel andrer fürtresli- cher Stellen dieser beyden Werke nicht zu gedenken. Ordnung. (Schöne Künste.) Man sagt von jeder Sache sie sey ordentlich, wenn Ord neben einander stehen, oder auf einander folgen,bestimmt; und man erkennt, oder bemerkt sie, so bald man entdeket, daß die Sachen nach einem Ge- sez verbunden sind, wenn gleich dieses Gesez keine Absicht zum Grund hat und nicht aus Ueberlegung vorhanden ist. Man höret bisweilen, daß Regen- tropfen von einem Dach in gleichen Zeiten nach ein- ander abtrüpfen. Jn dieser Folge der Tropfen ist Ordnung, ohne Absicht; die Umstände der Sache bringen es so mit sich, daß jede Tropfe gleich ge- schwinde auf die vorhergehende folget. Dies ist hier das Gesez der Folge, durch welches sie Ord- nung bekommt. Es kann sich treffen, daß etliche Kugeln, ohne Absicht auf die Erde geworfen, in gerader Linie und gleich weit aus einander liegen bleiben. Wir entdeken alsdenn Ordnung und Ge- seze der Stellung darin, die keine Folge der Ueber- legung sind. Wo wir in Verbindung der Dinge kein Gesez, keine Regel der Einförmigkeit bemerken, da sagen wir, die Sachen seyen unordentlich durch einander. Dieses sagen wir z. B. von den Bäu- men in einem Walde, wenn wir keine Regel benter- ken, durch welche Einförmigkeit der Stellung ent- standen wäre. Die Ordnung kann sehr einfach, aber sie kann Eine Menge vor unsern Augen zerstreut liegender so
[Spaltenumbruch] Ord gen worden, anzeigen. Die meiſten Arien unterſchei-den ſich nicht genug von Opernarien; faſt eben die Weichlichkeit und der uͤbertriebene, beynahe wolluͤſtige Puz der Melodien, und an einigen Orten ſo gar Spieh- lereyen, die die Empfindung toͤdten; Paſſagen, die ſich zu jeder Leidenſchaft gleich gut ſchiken; weil ſie gar nichts ſagen. Z. B. in der Arie: So ſtehet ein Berg Gottes ꝛc. eine Paſſage auf das Wort ſtehet, und ein langer Lauf auf das Wort ſtrahlen. Jn dem ſo feyerlichen Solo: Weinet nicht, es hat uͤberwunden der Loͤwe vom Stamm Juda, ſind wuͤrkliche, bis zum Ekel wiederholte Taͤndeleyen uͤber die Worte uͤberwunden, der Loͤwe und dem Stamm Juda. Jch verehre den Mann, der mein Freund war, in ſeiner Aſche, ſo ſehr, als jemand; aber uͤber ſolche ſchweere Verſehen, bey ſo hoͤchſt feyerli- cher Gelegenheit, kann ich, zur Warnung andrer nicht ſchweigen. Wenn das warme Jntereſſe fuͤr das Wahre und Gute mir dieſen Tadel zweyer ge- gen mich freundſchaftlich geſinnter Maͤnner abge- drungen; ſo iſt es auch nicht Freundſchaft, ſondern wuͤrkliche Empfindung der Sache, wenn ich beyden uͤber die Arie: Singt dem goͤttlichen Propheten, meinen lauten Beyfall gebe: viel andrer fuͤrtreſli- cher Stellen dieſer beyden Werke nicht zu gedenken. Ordnung. (Schoͤne Kuͤnſte.) Man ſagt von jeder Sache ſie ſey ordentlich, wenn Ord neben einander ſtehen, oder auf einander folgen,beſtimmt; und man erkennt, oder bemerkt ſie, ſo bald man entdeket, daß die Sachen nach einem Ge- ſez verbunden ſind, wenn gleich dieſes Geſez keine Abſicht zum Grund hat und nicht aus Ueberlegung vorhanden iſt. Man hoͤret bisweilen, daß Regen- tropfen von einem Dach in gleichen Zeiten nach ein- ander abtruͤpfen. Jn dieſer Folge der Tropfen iſt Ordnung, ohne Abſicht; die Umſtaͤnde der Sache bringen es ſo mit ſich, daß jede Tropfe gleich ge- ſchwinde auf die vorhergehende folget. Dies iſt hier das Geſez der Folge, durch welches ſie Ord- nung bekommt. Es kann ſich treffen, daß etliche Kugeln, ohne Abſicht auf die Erde geworfen, in gerader Linie und gleich weit aus einander liegen bleiben. Wir entdeken alsdenn Ordnung und Ge- ſeze der Stellung darin, die keine Folge der Ueber- legung ſind. Wo wir in Verbindung der Dinge kein Geſez, keine Regel der Einfoͤrmigkeit bemerken, da ſagen wir, die Sachen ſeyen unordentlich durch einander. Dieſes ſagen wir z. B. von den Baͤu- men in einem Walde, wenn wir keine Regel benter- ken, durch welche Einfoͤrmigkeit der Stellung ent- ſtanden waͤre. Die Ordnung kann ſehr einfach, aber ſie kann Eine Menge vor unſern Augen zerſtreut liegender ſo
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Ord
Ord
gen worden, anzeigen. Die meiſten Arien unterſchei-
den ſich nicht genug von Opernarien; faſt eben die
Weichlichkeit und der uͤbertriebene, beynahe wolluͤſtige
Puz der Melodien, und an einigen Orten ſo gar Spieh-
lereyen, die die Empfindung toͤdten; Paſſagen, die
ſich zu jeder Leidenſchaft gleich gut ſchiken; weil ſie
gar nichts ſagen. Z. B. in der Arie: So ſtehet
ein Berg Gottes ꝛc. eine Paſſage auf das Wort
ſtehet, und ein langer Lauf auf das Wort ſtrahlen.
Jn dem ſo feyerlichen Solo: Weinet nicht, es hat
uͤberwunden der Loͤwe vom Stamm Juda, ſind
wuͤrkliche, bis zum Ekel wiederholte Taͤndeleyen uͤber
die Worte uͤberwunden, der Loͤwe und dem Stamm
Juda. Jch verehre den Mann, der mein Freund
war, in ſeiner Aſche, ſo ſehr, als jemand; aber
uͤber ſolche ſchweere Verſehen, bey ſo hoͤchſt feyerli-
cher Gelegenheit, kann ich, zur Warnung andrer
nicht ſchweigen. Wenn das warme Jntereſſe fuͤr
das Wahre und Gute mir dieſen Tadel zweyer ge-
gen mich freundſchaftlich geſinnter Maͤnner abge-
drungen; ſo iſt es auch nicht Freundſchaft, ſondern
wuͤrkliche Empfindung der Sache, wenn ich beyden
uͤber die Arie: Singt dem goͤttlichen Propheten,
meinen lauten Beyfall gebe: viel andrer fuͤrtreſli-
cher Stellen dieſer beyden Werke nicht zu gedenken.
Ordnung.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Man ſagt von jeder Sache ſie ſey ordentlich, wenn
man eine Regel entdeket, nach welcher ihre Theile
neben einander ſtehen, oder auf einander folgen.
Alſo bedeutet das Wort Ordnung im allgemeinen
metaphyſiſchen Sinne, eine durch eine, oder meh-
rere Regeln beſtimmte beſondere Art der Stellung,
oder der Folge aller zu einem Ganzen gehoͤrigen
Theile, wodurch in dem Mehreren Einfoͤrmigkeit
entſteht. Jn den Reyhen folgender Zahlen 1. 2. 3.
4. 5. oder 1. 2. 4. 8. 16. iſt Ordnung; weil in
beyden die verſchiedenen Zahlen nach einem Geſez
auf einander folgen, wodurch Einfoͤrmigkeit entſteht.
Man entdeket es in der erſten Reyhe darin, daß
jede folgende Zahl um 1 groͤßer iſt, als die vorher-
gehende; und in der andern darin, daß jede fol-
gende das doppelte der vorhergehenden iſt. Die
Ordnung hat alſo da ſtatt, wo mehrere Dinge nach
einer gewiſſen Regel neben einander ſtehen, oder auf
einander folgen koͤnnen: ſie wird durch die Regel,
oder durch das Geſez, nach welcher dieſe Dinge
neben einander ſtehen, oder auf einander folgen,
beſtimmt; und man erkennt, oder bemerkt ſie, ſo
bald man entdeket, daß die Sachen nach einem Ge-
ſez verbunden ſind, wenn gleich dieſes Geſez keine
Abſicht zum Grund hat und nicht aus Ueberlegung
vorhanden iſt. Man hoͤret bisweilen, daß Regen-
tropfen von einem Dach in gleichen Zeiten nach ein-
ander abtruͤpfen. Jn dieſer Folge der Tropfen iſt
Ordnung, ohne Abſicht; die Umſtaͤnde der Sache
bringen es ſo mit ſich, daß jede Tropfe gleich ge-
ſchwinde auf die vorhergehende folget. Dies iſt
hier das Geſez der Folge, durch welches ſie Ord-
nung bekommt. Es kann ſich treffen, daß etliche
Kugeln, ohne Abſicht auf die Erde geworfen, in
gerader Linie und gleich weit aus einander liegen
bleiben. Wir entdeken alsdenn Ordnung und Ge-
ſeze der Stellung darin, die keine Folge der Ueber-
legung ſind. Wo wir in Verbindung der Dinge
kein Geſez, keine Regel der Einfoͤrmigkeit bemerken,
da ſagen wir, die Sachen ſeyen unordentlich durch
einander. Dieſes ſagen wir z. B. von den Baͤu-
men in einem Walde, wenn wir keine Regel benter-
ken, durch welche Einfoͤrmigkeit der Stellung ent-
ſtanden waͤre.
Die Ordnung kann ſehr einfach, aber ſie kann
auch ſehr verwikelt ſeyn; weil das Geſez derſelben
mehr oder weniger Bedingungen haben kann, denen
die Folge der Theile genug thun muß. Es giebt
auch vielerley ganz verſchiedene Gattungen der Ord-
nung, nach Verſchiedenheit der Abſicht, in welcher
man einer Folge von Dingen eine Regel der Ein-
foͤrmigkeit vorſchreibt. Damit wir uns aber nicht
in allgemeine metaphyſiſche Betrachtungen vertiefen,
ſondern blos bey dem bleiben, was die allgemeine
Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte davon noͤthig hat; ſo
wollen wir hier blos von den Dingen ſprechen, die
durch Ordnung eine aͤſthetiſche Kraft bekommen, ohne
Ordnung aber voͤllig gleichguͤltig waͤren; denn nur au
dieſe Weiſe laͤßt ſich die Wuͤrkung der Ordnung vor
allen Nebenwuͤrkungen abgeſondert erkennen.
Eine Menge vor unſern Augen zerſtreut liegender
Feldſteine, die wir mit voͤlliger Gleichguͤltigkeit, ohne
den geringſten Grad der Aufmerkſamkeit ſehen, kann
durch Ordnung in einen Gegenſtand verwandelt wer-
den, den wir mit Aufmerkſamkeit betrachten, und
der uns wolgefaͤllt. Hier hat kein einzeler Theil fuͤr
ſich aͤſthetiſche Kraft, ſondern iſt voͤllig unbedeutend:
gefaͤllt uns eine gewiſſe Anordnung dieſer Steine,
ſo
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